Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
das Zwitschern der Vögel«, sagt er, legt die Hände auf seine Knie und schaut abwechselnd mich und dann wieder die Konzertina an. »Das Instrument da gehört jetzt jedenfalls Ihnen. Nehmen Sie ruhig alle, die Ihnen gefallen. In Händen, die was davon verstehen, sind sie besser aufgehoben als bei mir. Ich kann sowieso nichts damit anfangen.« Er lauscht eine Weile auf den Wind. »Ich muss noch mal nach der Maschine sehen. Alle dreißig Minuten habe ich zu prüfen, ob sich der Ventilator auch ordnungsgemäß dreht, ob die Transformatoren problemlos arbeiten und so weiter. Warten Sie doch bitte so lange im Zimmer nebenan, ja?«
Der junge Mann geht hinaus. Ich kehre in das Wohn- und Esszimmer zurück und trinke den Kaffee, den die Bibliothekarin aufgebrüht hat.
»Das ist also ein Musikinstrument?«, fragt sie.
»Ja, eines von vielen verschiedenen Musikinstrumenten«, sage ich. »Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten, und jede davon klingt anders.«
»Das sieht ja aus wie ein Blasebalg!«
»Ja, es funktioniert auch nach demselben Prinzip.«
»Darf ich es anfassen?«
»Ja, natürlich«, sage ich und reiche ihr das Instrument. Sie nimmt es entgegen, als handele es sich um ein verletzliches Tierjunges – ganz vorsichtig und mit beiden Händen. Staunend mustert sie es.
»Ein komisches Ding«, sagt sie und lächelt unsicher. »Aber schön, dass du jetzt ein Instrument hast. Bist du glücklich?«
»Der Weg hierher hat sich jedenfalls gelohnt.«
»Der Verwalter ist einer, der sich nicht ganz von seinem Schatten lösen konnte. Ein klitzekleines Stück nur ist davon hängen geblieben, aber er hat eben noch etwas von seinem Schatten«, sagt sie leise. »Deshalb lebt er im Wald. Seine Seele ist zwar nicht stark genug, um ihn ins Waldesinnere zu schicken, aber in die Stadt zurück kann er auch nicht. Ein bedauernswerter Mensch.«
»Glaubst du, dass deine Mutter auch im Wald lebt?«
»Ja, vielleicht – oder auch nicht«, sagt sie. »Ich weiß es nicht. Es ist mir eben nur plötzlich in den Sinn gekommen.«
Sieben oder acht Minuten später kommt der junge Mann in das Häuschen zurück. Ich bedanke mich für die Ziehharmonika, mache den Koffer auf, hole die Geschenke heraus und stelle sie auf den Tisch: ein kleiner Reisewecker, ein Schachspiel und ein Benzinfeuerzeug. Alles Dinge, die ich aus den Koffern im Archiv habe.
»Das ist für Sie, für das Instrument. Bitte«, sage ich.
Der junge Mann ziert sich zunächst, nimmt die Sachen aber schließlich an. Er besieht sich die Uhr, dann das Feuerzeug und zu guter Letzt jede einzelne Schachfigur.
»Wissen Sie, wie die Sachen funktionieren?«, frage ich.
»Ach, das geht schon in Ordnung. Sie brauchen mir nichts zu erklären«, sagt er. »Es ist schön genug, sie einfach zu betrachten, und nach und nach komme ich bestimmt von selber darauf, wie sie funktionieren und was man damit machen kann. Ich habe schließlich Zeit, mehr als genug!«
Ich sage, dass wir uns langsam verabschieden müssten.
»Och, haben Sie es so eilig?«, sagt er traurig.
»Ich möchte vor Sonnenuntergang wieder in der Stadt sein, damit ich noch etwas schlafen kann, bevor ich mich an die Arbeit mache«, erkläre ich.
»Ja, verstehe«, sagt der junge Mann. »Was sein muss, muss sein. Kommen Sie, ich bringe Sie hinaus. Ich würde Sie ja gerne bis zum Waldrand begleiten, aber während der Arbeit darf ich das Kraftwerk nicht verlassen.«
Wir verabschieden uns vor seinem Häuschen.
»Kommen Sie doch bitte wieder mal vorbei. Dann spielen Sie mir etwas auf dem Instrument vor, ja?«, sagt der junge Mann. »Sie sind jederzeit willkommen.«
»Vielen Dank«, sage ich.
Je weiter wir uns vom Kraftwerk entfernen, desto schwächer wird das Brausen des Windes. Kurz vor dem Waldrand ist es dann nicht mehr zu hören.
29 HARD-BOILED WONDERLAND
DER SEE, STRUMPFHOSEN
Das dicke Mädchen und ich rollten unsere Sachen in die Ersatzhemden ein und banden sie uns, damit sie beim Schwimmen nicht nass würden, um den Kopf. Wir sahen ziemlich schräg aus, doch Zeit, uns darüber lustig zu machen, hatten wir nicht. Die Lebensmittel, den Whiskey und alles überflüssige Zeug ließ ich zurück, sodass sich mein Gepäck in Grenzen hielt: Taschenlampe, Pullover, Schuhe, Geldbeutel, Messer und ein Signalgerät. Das Mädchen hatte nicht mehr.
»Passt gut auf!«, sagte der Professor.
In dem düsteren Licht wirkte er wesentlich älter, als es anfangs den Anschein gehabt hatte. Seine Haut war schlaff, sein Haar
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