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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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haben. Er macht’s wahrscheinlich nicht mehr lange. Geh ihn doch besuchen, wenn’s dir irgend möglich ist. Er möchte dich nämlich, wie’s aussieht, unbedingt noch einmal sehen.«
    »Hm, ja …«, sage ich und tue so, als wüsste ich nicht so recht. »Ich persönlich hätte nichts dagegen, aber wird mich der Wächter denn zu ihm lassen?«
    »Selbstverständlich wird er das! Dein Schatten liegt im Sterben, und wenn ein Schatten im Sterben liegt, hat der angehörige Mensch das Recht, ihn zu sehen. So lautet die Vorschrift. Für die Stadt ist der Tod eines Schattens ein feierlicher Akt, und egal, was der Wächter meint, stören darf er ihn nicht. Er hätte auch keinen Grund dazu.«
    »Tja, dann werde ich mich jetzt gleich mal auf den Weg machen«, sage ich nach einer kleinen Pause.
    »Ja, das wird das Beste sein«, sagt der Alte, tritt mir zur Seite und klopft mir auf die Schulter. »Geh lieber gleich, bevor am Abend alles zuschneit. Man kann sagen, was man will, aber der eigene Schatten steht einem Menschen doch noch immer am nächsten. Sei in seiner letzten Stunde bei ihm, verabschiede dich ordentlich, dann machst du dir hinterher keine Vorwürfe. Lass ihn in Frieden sterben. Es mag zwar schwer für dich sein, aber es ist das Beste so.«
    »Ja, das weiß ich nur zu gut«, sage ich, ziehe den Mantel an und wickele mir den Schal um den Hals.

31  HARD-BOILED WONDERLAND
DIE SPERRE, POLICE, CHEMIE
    Vom Ende der Röhre bis zum U-Bahnhof Aoyama Itchome war es nicht sehr weit. Wir liefen die Gleise entlang; wenn ein Zug nahte, drückten wir uns in den Schatten eines Stützpfeilers. Wir konnten jedes Mal in die Abteile sehen, doch von den Fahrgästen schaute niemand zu uns her. Wer U-Bahn fährt, schaut nicht aus dem Fenster. Manche lasen Zeitung, andere saßen oder standen einfach nur da. Die U-Bahn ist für die Leute nichts weiter als ein bequemes und effizientes städtisches Transportmittel. Niemand gerät vor Freude aus dem Häuschen, wenn er es benutzt.
    Die Bahnen waren nicht besonders voll. Kaum jemand stand. Zwar war die Stoßzeit schon vorbei, doch ich hatte die Ginza-Linie morgens um zehn voller in Erinnerung.
    »Welchen Wochentag haben wir heute?«, fragte ich das Mädchen.
    »Ich weiß nicht. So was war mir immer egal«, sagte es.
    »Für einen Werktag kommen mir die Bahnen ziemlich leer vor«, sagte ich zweifelnd. »Vielleicht ist heute Sonntag.«
    »Und, was wäre dann?«
    »Nichts wäre. Sonntag halt«, sagte ich.
    Auf den Gleisen ließ sich einfacher laufen, als ich gedacht hatte. Platz war mehr als genug, und es gab keine Hindernisse, keine Ampeln, keine Autos. Keine Mautgebühr, keine Betrunkenen. Die Neonröhren an den Wänden erhellten die Gleise zur Genüge, die Ventilation sorgte für frische Luft. Im Vergleich zu dem modrigen Mief, den wir vorher genossen hatten, konnten wir uns jedenfalls nicht beschweren.
    Zuerst ließen wir eine Bahn Richtung Ginza passieren, als Nächstes eine Richtung Shibuya. Dann waren wir schon in der Nähe des Bahnhofs Aoyama Itchome und sondierten aus dem Schatten eines Pfeilers heraus die Lage oben auf dem Bahnsteig. Hauptsache, wir wurden nicht von Bahnangestellten erwischt. Ich hätte nicht gewusst, wie wir uns da hätten herausreden sollen. Am Ende des Bahnsteigs befand sich ein Leiteraufgang. Die hölzerne Absperrung oben würde man leicht übersteigen können. Das einzige Problem war, dabei nicht von Bahnleuten gesehen zu werden.
    Von unserem Pfeiler aus beobachteten wir, wie eine Bahn aus Richtung Shibuya einfuhr, am Bahnsteig hielt, die Türen öffnete, Fahrgäste ausspuckte, neue einsteigen ließ und die Türen wieder schloss. Wir sahen, wie der Schaffner ausstieg, die Leute beim Aus- und Einsteigen beobachtete, dann die Türen schloss und das Signal zur Abfahrt gab. Sobald die Bahn weg war, verschwanden auch die Bahnangestellten irgendwohin. Auf der gegenüberliegenden Plattform war auch kein Bahnmensch zu sehen.
    »Auf geht’s!«, sagte ich. »Nicht rennen, ganz normal gehen, als ob nichts wäre. Sonst werden die Leute misstrauisch.«
    »Alles klar«, sagte das Mädchen.
    Wir lösten uns aus dem Schatten, gingen zügig zur Leiter, kletterten hinauf und überstiegen mit unbeteiligter Miene den Holzbock, ganz unbedarft, als machten wir jeden Tag nichts anderes. Ein paar Leute schauten verwundert zu uns her; sie fragten sich wohl, was wir für Typen wären. Nach Bahnangestellten sahen wir nicht aus. Wir waren verdreckt, meine Hosen und der Rock des Mädchens

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