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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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großes Loch geworden. Das Stechen und Kratzen ihrer Spaten hat mich aufgeweckt. Es hat sich angehört, als würden die Alten das Loch direkt in meinem Kopf schaufeln. Dann hat es angefangen zu schneien, und der Schnee hat das Loch unter sich begraben.«
    »Und sonst?«
    »Ich bin mit dir zum Kraftwerk gegangen. Aber das weißt du ja selber, nicht? Ich habe den jungen Verwalter getroffen und mit ihm über den Wald gesprochen. Dann hat er mir noch die Turbine über dem Windloch gezeigt. Das Brausen des Windes war furchterregend – als käme es direkt aus den Tiefen der Hölle zu uns herauf. Der Verwalter ist ein stiller Mann, jung und abgemagert.«
    »Weiter?«
    »Von ihm hab ich die kleine Ziehharmonika bekommen, eine Konzertina, die man ganz flach zusammendrücken kann. Sie ist zwar alt, funktioniert aber tadellos.«
    Sie sitzt auf dem Boden und denkt nach, lange. Mir ist, als würde es von Augenblick zu Augenblick kälter im Magazin.
    »Die Ziehharmonika!«, sagt sie. »Die Ziehharmonika könnte … nein, sie ist der Schlüssel, bestimmt.«
    »Die Ziehharmonika?«, sage ich.
    »Ja, ganz logisch: Die Ziehharmonika steht für Musik, Musik steht für meine Mutter und meine Mutter für das, was von meiner Seele übrig geblieben ist. Könnte das nicht sein?«
    Ich stehe auf, gehe in die Bibliothek zurück zu meinem Mantel, der neben dem Ofen hängt, hole die Konzertina aus der Tasche, kehre damit ins Magazin zurück und setze mich wieder neben die Bibliothekarin. Ich stecke meine Hände in die Schlaufen an beiden Seiten und spiele ein paar Akkorde.
    »Das hört sich sehr schön an«, sagt sie. »Sollen diese Laute den Wind nachahmen?«
    »Es ist Wind«, sage ich. »Die Ziehharmonika erzeugt Wind, der die verschiedensten Laute macht, und setzt sie zusammen.«
    Sie hält die Augen geschlossen und lauscht dem Klang der Harmonien.
    Ich spiele der Reihe nach alle Akkorde, die mir einfallen. Mit den Fingern der rechten Hand taste ich mich dabei sachte die Tonleiter herauf und herunter, doch eine Melodie gibt sich nicht zu erkennen. Das ist mir mittlerweile aber auch schon egal. Es reicht, wenn ich ihr mit der Ziehharmonika das Lied des Windes vorspiele. Nach mehr zu suchen ist gar nicht nötig. Ich brauche mich nur von ganzem Herzen dem Wind zu überlassen, wie ein Vogel.
    Nein, es geht einfach nicht, ich kann meine Seele unmöglich im Stich lassen. So schwer ihre Last auch wiegt, so traurig sie mich oft auch macht … Aber manchmal, da tanzt sie eben wie ein Vögelchen im Wind, da überschaut sie mit einem Mal die ganze Ewigkeit! Ich kann sie ja jetzt sogar im Klang der kleinen Ziehharmonika wiederfinden.
    Ich meine zu hören, wie der Winterwind draußen durch die Stadt wirbelt. Er pfeift um die Ecken der Bibliothek, dreht sich um den hoch emporragenden Uhrturm, fährt unter der Brücke hindurch und schüttelt die Weidenzweige entlang des Flusses. Er rauscht durch den Wald, streicht über die Wiesen, surrt in den Stromleitungen des Fabrikgeländes und hämmert gegen das Tor. Die Tiere zittern vor Kälte, und die Menschen in den Häusern halten den Atem an. Ich schließe die Augen und lasse im Geiste die Bilder der Stadt an mir vorüberziehen. Die Sandbank im Fluss, die Aussichtstürme an der Mauer im Westen, das Kraftwerk im Wald, die sonnigen Flecken vor der Beamtensiedlung, wo die Alten sitzen und schwatzen, die Wasserbecken im Fluss, vor denen die Tiere kauern, um zu saufen, das im Wind zitternde grüne Unkraut, das im Sommer zwischen den Steinstufen am Kanal wächst. Auch an den See im Süden, wo ich zusammen mit der Bibliothekarin gewesen bin, kann ich mich klar und deutlich erinnern, ebenso an das kleine Feld hinter dem Kraftwerk, an die Wiesen im Westen, wo die alten Kasernen liegen, und an die verlassene Ruine des Anwesens mit dem alten Brunnen im Ostwald, direkt an der Mauer.
    Die Menschen gehen mir durch den Kopf, die ich hier kennen gelernt habe. Der Oberst von nebenan und die Alten aus dem Beamtenviertel, der Verwalter des Kraftwerks und schließlich der Wächter – sicher sitzen sie jetzt alle in ihren Zimmern und hören dem Schneesturm draußen zu.
    Die Plätze, die Menschen – alle, jeden Einzelnen von ihnen werde ich verlieren, und zwar für immer. Ach, und sie erst, die Bibliothekarin! Doch ich werde diese Welt und ihre Bewohner niemals vergessen können, ich werde mich immer daran erinnern, als ob es gestern gewesen wäre. Mag die Stadt in meinen Augen noch so unnatürlich und verkehrt sein, und mögen

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