Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Dinge, die du unbedingt brauchst und wissen musst, wird man dir schon vorlegen, eines nach dem anderen. Aber es ist an dir, dies alles gewissenhaft zu erlernen. Verstehst du, diese Stadt hier ist perfekt. Perfekt in dem Sinne, dass alles da ist. Doch sofern man es nicht wirklich begreift, ist nichts da. Perfektes Nichts. Merk dir das gut! Was andere Leute dir beibringen, bleibt bei ihnen – wirklich verinnerlichen kannst du nur, was du selbst gelernt hast. Und nur das wird dir weiterhelfen. Also mach die Augen auf, spitz die Ohren, gebrauche deinen Kopf und versuche den Sinn dessen, was die Stadt dir bietet, zu verstehen. Und solltest du eine Seele haben – benutze sie, solange du sie hast. Das ist alles, was ich dir raten kann.«
Wenn sich der frühere Glanz des Arbeiterviertels, wo die Bibliothekarin wohnt, in Dunkelheit verloren hat, dann steht das Beamtenviertel im Südwesten der Stadt im Begriff, seine Farbe unwiederbringlich an das dörrende Licht zu verlieren: Ausgewaschen vom Frühling, vom Sommer versengt und vom schneidenden Wind der kalten Jahreszeit verwittert. Entlang des breiten, sanften Hangs, der »Westhügel« genannt wird, stehen Reihe an Reihe weiße, zweistöckige Häuser: die Dienstwohnungen. Die Häuser waren ursprünglich für jeweils drei Familien angelegt, wobei nur die vorgebaute Eingangshalle zur gemeinschaftlichen Nutzung gedacht war. Alles ist weiß gestrichen: die Verschalungen aus Zedernholz, die Fensterrahmen, die kleinen Veranden, die Balustraden vor den Fenstern – weiß, soweit das Auge reicht. Der Westhügel bietet Weiß in allen seinen Schattierungen: von frisch gestrichenem, unnatürlich strahlendem Weiß und durch lange Sonneneinstrahlung gelbstichigem Weiß bis hin zu jenem Un-Weiß, dem Wind und Regen alles geraubt zu haben scheinen – alle diese Weißtöne finden sich überall entlang der Kieswege, rund um den Hügel. Zäune haben die Reihenhäuser nicht. Nur Blumenbeete sind vor den kleinen Veranden angelegt, zirka ein Meter schmal, länglich und sehr sorgfältig gepflegt. Im Frühling blühen dort Krokusse, Stiefmütterchen und Ringelblumen, im Herbst Kosmeen.Wenn die Blumen blühen, sehen die Gebäude auf verblüffende Weise Ruinen ähnlich.
Vor langer Zeit soll dies einmal eine »feine« Gegend gewesen sein, die wohl mit Recht so bezeichnet worden ist. Denn wenn man durch das Viertel schlendert, sind hier und dort die Geister der Vergangenheit noch zu spüren. Auf den Straßen scheinen Kinder zu spielen, man hört jemanden Klavier spielen, und der Duft von warmem Abendessen liegt in der Luft. Als hätte ich mehrere durchsichtige Türen zur Vergangenheit durchschritten, kann ich diese Erinnerungen ganz real auf der Haut spüren.
Wie der Name des Viertels schon sagt, haben hier einmal Beamte gewohnt. Keine hochrangigen und auch keine kleinen Beamten, sondern Mittelklasse, Leute, die ihren bescheidenen Lebensstil zu bewahren suchten.
Aber von diesen Leuten ist jetzt niemand mehr da. Wohin sie verschwunden sind, weiß ich nicht.
Nach ihnen kamen die pensionierten Militärs. Sie haben ihre Schatten hinter sich gelassen und fristen nun auf dem Westhügel, an dem sich die Jahreszeitenwinde austoben, ihr einsames Leben – jeder für sich, wie leere Insektenpuppen an einer lichten Wand. Sie haben nichts mehr zu bewahren. Jeweils sechs bis neun alte Militärs wohnen in einem Haus.
Vom Wächter wurde mir eine dieser Dienstwohnungen als Behausung zugewiesen. Im selben Haus wohnen außer mir und dem Oberst noch zwei Majore, zwei Oberleutnants und ein Unteroffizier. Der Unteroffizier kocht und spielt Mädchen für alles, der Oberst trifft alle Entscheidungen. Wie beim Militär. Die alten Leutchen sind alleinstehend; zwischen Kriegsvorbereitung, Krieg und Wiederaufbau, zwischen Revolution und Gegenrevolution war für Familie keine Zeit geblieben.
Gewohnheitsgemäß stehen sie früh auf und nehmen ein hastiges Frühstück ein, um sich dann auch ohne Befehl ihren täglichen Arbeiten zu widmen. Der eine kratzt mit einem Spatel die alte Farbe von irgendwelchen Hausteilen ab, ein anderer jätet im Vorgarten Unkraut, wieder einer repariert Möbel, und einer zieht einen Handkarren den Hügel hinunter, um die Lebensmittelration des Hauses abzuholen. Nachdem sie allmorgendlich ihre Arbeiten erledigt haben, versammeln sich die Alten in der Nachmittagssonne und schwelgen in ihren Erinnerungen.
Mir wurde ein nach Osten gelegenes Zimmer im ersten Stock zugewiesen. Die Aussicht ist
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