Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Unterlippe.
»Was willst du denn über Einhörner wissen?«
»Alles«, sagte ich.
»Hör mal, es ist zehn vor fünf, wir machen gleich zu, dann ist immer viel los. Ich kann jetzt nicht. Warum kommst du nicht morgen früh, sobald die Bibliothek aufmacht? Dann kannst du über Einhörner oder meinetwegen Dreihörner so viel nachschlagen, wie du Lust hast.«
»Die Sache ist extrem dringend und extrem wichtig.«
»Aha«, sagte sie. »Wie extrem wichtig?«
»Die Evolution hängt davon ab«, sagte ich.
»Die Evolution?«, wiederholte sie. Nun schien sie doch ein wenig erschrocken zu sein. »Die Evolution, die Zehntausende von Jahren braucht, um voranzukommen? Warum das so dringend sein soll, weiß ich nicht. Hat das nicht einen Tag Zeit?«
»Es gibt eine Evolution, die Zehntausende von Jahren braucht, und es gibt eine, die sich in nur drei Stunden entwickelt. Am Telefon lässt sich das nicht so schnell erklären. Glaub mir bitte, die Sache ist extrem wichtig. Die weitere Entwicklung des Menschen hängt davon ab.«
»Wie in 2001: Odyssee im Weltraum? «
»Genau«, sagte ich. 2001 hatte ich auch schon ein paar Mal auf Video gesehen.
Sie sagte eine Weile nichts.
»Ich bin nicht verrückt«, sagte ich. »Ich bin mehr oder weniger exzentrisch und halsstarrig und verabscheue Selbstüberschätzung, aber verrückt bin ich nicht. Man hat mich auch schon gehasst, aber dass ich verrückt wäre, hat noch niemand behauptet.«
»Okay, okay«, sagte sie. »Wie ein Verrückter redest du nicht gerade. Ein ganz schlechter Mensch scheinst du auch nicht zu sein, außerdem hast du mir ein Eis spendiert. Also gut, treffen wir uns heute Abend um halb sieben in dem Café neben der Bücherei. Ich bring die Bücher mit. Okay?«
»So einfach ist die Sache leider nicht. Ich kann aus verschiedenen Gründen nicht aus der Wohnung.«
»Das heißt«, sagte sie und trommelte mit den Fingernägeln gegen ihre Schneidezähne. Jedenfalls hörte es sich so an. »Das heißt, du verlangst, dass ich dir die Bücher in die Wohnung bringe, ja? Oder sehe ich das falsch?«
»Nein«, sagte ich. »Aber ich verlange es nicht, ich bitte dich darum.«
»Es hängt also von meinem guten Willen ab?«
»Genau«, sagte ich. »Du glaubst nicht, was alles los ist, wirklich.«
Sie sagte lange nichts. Dass sie schwieg und nicht der Ton entfernt worden war, verriet die Musik im Hintergrund. Die Melodie von Annie Lowly zeigte an, dass die Öffnungszeit der Bücherei zu Ende ging.
»Ich arbeite seit fünf Jahren in der Bücherei, aber ein so unverschämter Kerl wie du ist mir noch nie untergekommen«, sagte sie. »Einer, der verlangt, dass man ihm die Bücher ins Haus liefert. Und das gleich beim ersten Mal! Findest du nicht, dass das unverschämt ist?«
»Doch«, sagte ich. Üblich war es nicht, keine Frage.
»Großartig«, sagte sie. »Wie finde ich denn zu dir?«
Ich erklärte es ihr gerne.
8 DAS ENDE DER WELT
DER OBERST
»Sehe kaum Chancen für dich, deinen Schatten wiederzubekommen«, sagt der Oberst und schlürft seinen Kaffee. Wie die meisten Leute, die lange Jahre gewohnt waren, anderen Befehle zu geben, spricht er in strammer Haltung und mit vorgestrecktem Kinn. Doch hochmütig oder aufdringlich ist er nicht. Der lange Militärdienst hat ihm lediglich diese stramme Haltung, ein Leben nach Vorschrift und eine Unmenge Erinnerungen beschert. Als Nachbar ist der Oberst einfach ideal für mich. Er ist freundlich, sehr still und ein guter Schachspieler.
»Stimmt schon, was der Wächter gesagt hat«, fährt der alte Oberst fort. »Sowohl theoretisch als auch praktisch besteht zunächst keine Möglichkeit, deinen Schatten zurückzubekommen. Solange du hier bist, darfst du keinen Schatten haben, und verlassen kannst du diese Stadt nie mehr. Militärisch gesprochen ist das hier eine Falle. Man kann zwar hinein, aber nicht hinaus. Das heißt, solange die Mauer steht.«
»Aber ich hätte nie gedacht, den Schatten für immer zu verlieren. Ich dachte, es handelt sich um eine kurzfristige Maßnahme. Und es hat mich auch niemand darauf hingewiesen!«
»Hier weist einen niemand auf irgendetwas hin«, sagt der Oberst. »Diese Stadt läuft nach ihren eigenen ganz bestimmten Regeln. Ob jemand irgendetwas weiß oder nicht, spielt für die Stadt überhaupt keine Rolle. Traurig, aber wahr.«
»Und was wird jetzt aus dem Schatten?«
»Nichts. Der wird bloß da sein. Bis er stirbt. Hast du ihn seitdem mal zu Gesicht bekommen?«
»Nein. Ich bin zwar immer wieder
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