Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
hingegangen, aber der Wächter ließ mich nicht zu ihm vor. Angeblich aus Sicherheitsgründen.«
»Tja, da kann man nichts machen«, sagt der Oberst kopfschüttelnd. »Der Wächter ist für die Bewachung der Schatten zuständig, er trägt die alleinige Verantwortung. Ich kann da überhaupt nichts für dich tun. Der Wächter ist, wie du weißt, ein schwieriger Mensch, ein rauer Geselle, der hört nicht auf andere Leute. Dir bleibt nichts übrig, als geduldig zu warten, bis er es sich anders überlegt.«
»Das tue ich ja«, sage ich. »Aber was fürchtet er denn bloß?«
Der Oberst trinkt den Kaffee aus, stellt die Tasse auf den Unterteller zurück, holt ein Taschentuch aus der Tasche und wischt sich damit die Mundwinkel ab. Wie seine Kleidung sieht auch das Taschentuch ziemlich strapaziert und alt aus, aber tadellos gepflegt und sauber.
»Er fürchtet, dass du und dein Schatten wieder eins werden. Dann muss er die ganze Prozedur nämlich noch mal machen.« Und damit wendet er seine Aufmerksamkeit wieder dem Schachbrett zu. Von den Figuren und den Zugregeln her ist dieses Schachspiel ein wenig anders, als ich es gewohnt bin, und deshalb gewinnt fast immer der Alte.
»Mein Affe schlägt deinen Läufer, tut mir leid.«
»Bitte«, sage ich. Ich bewege meine Mauer und schneide dem Affen den Rückweg ab.
Der Oberst nickt ein paar Mal und richtet seinen Blick wieder fest auf das Schachbrett. Die Würfel sind gefallen, sein Sieg steht so gut wie fest, trotzdem brüstet er sich nicht damit, gibt mir nicht den letzten Stoß, sondern spielt bedächtig Zug um Zug aus. Ihm geht es nicht darum, andere zu besiegen, er will seine eigenen Fähigkeiten auf die Probe stellen.
»Es ist bitter, sich von seinem Schatten zu trennen, ihn sterben zu lassen«, sagt der Alte, zieht seinen Springer seitwärts herüber und setzt ihn geschickt zwischen Mauer und König. Damit ist mein König praktisch ungedeckt. Noch drei Züge, dann bin ich schachmatt. »Das ist für jeden schwer. Auch für mich war es das. Und es ist schon ein Unterschied, ob man den Schatten als unwissendes Kind verliert, ihn sterben lässt, ohne ihn richtig zu kennen, oder im Alter – das geht einem an die Nieren, kann ich dir sagen. Ich habe meinen Schatten sterben lassen, als ich 65 war. In dem Alter hat man schon eine ganze Menge gemeinsamer Erinnerungen.«
»Wie lange lebt denn ein Schatten noch, nachdem er abgetrennt wurde?«
»Das hängt vom Schatten ab«, sagt der Alte. »Es gibt gesunde und weniger gesunde. Aber abgetrennte Schatten können in dieser Stadt nicht sehr lange überleben. Das Klima hier ist nichts für sie. Der Winter ist lang und hart. Es gibt wohl keinen, der den nächsten Frühling noch erlebt hätte.«
Ich sehe mir die Situation auf dem Schachbrett eine Weile an und gebe schließlich auf.
»Du könntest dich noch fünf Züge dem Matt entziehen«, sagt der Oberst. »Lohnt sich das nicht? Bei fünf Zügen kann man auf einen Fehler des Gegners hoffen. Erst der letzte Zug entscheidet über Sieg oder Niederlage.«
»Ich will’s versuchen.«
Während ich überlege, geht der Alte zum Fenster, schiebt mit dem Finger den dicken Vorhang ein wenig zur Seite und sieht durch diesen schmalen Spalt nach draußen.
»Das ist jetzt für dich die schlimmste Zeit hier. So ähnlich wie Zahnen. Die Milchzähne sind weg, die neuen aber noch nicht da. Du verstehst, was ich sagen will?«
»Dass mein Schatten zwar von mir getrennt, aber noch nicht tot ist?«
»Genau«, sagt der Alte und nickt. »Ich kann mich noch gut erinnern. Man hat die rechte Balance zwischen dem, was war, und dem, was sein wird, noch nicht gefunden. Man ist deshalb uneinig mit sich selbst. Aber wenn die neuen Zähne erst da sind, vergisst man die alten bald.«
»Das heißt, wenn die Seele verschwindet?«
Darauf antwortet der Alte nicht.
»Entschuldigen Sie, dass ich so viel frage«, sage ich. »Aber ich weiß fast nichts über diese Stadt. Alles verwirrt mich hier. Wie die Stadt organisiert ist, warum die hohe Mauer da ist, wieso das Vieh jeden Tag herein- und wieder herausgelassen wird, was alte Träume sind – alles ist mir ein Rätsel. Und Sie sind der Einzige, den ich fragen kann!«
»Ich habe weiß Gott auch nicht alles bis ins Letzte begriffen«, sagt der Alte leise. »Außerdem gibt es Dinge, die ich dir nicht einfach so erklären kann, und solche, die ich nicht erklären darf. Aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. In gewissem Sinne ist die Stadt gerecht.
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