Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
sah auf die Uhr. Ich hatte noch ungefähr eine Stunde, ehe ich in der Stadt sein musste. Statt die Uniform und das Kleid wieder wegzupacken, fing ich jetzt selbst an, in der Truhe zu wühlen. Ich fand Notenhefte meiner Mutter, meine Schulzeugnisse, meine Geburtsurkunde, die Heiratsurkunde meiner Eltern und Mutters Einbürgerungspapiere.
Eine Blechschachtel enthielt Tonbänder. Als sie wieder ernsthaft zu singen anfangen wollte, hatte meine Mutter ihren Gesang aufgenommen. Sie hatte auch Gesangsunterricht, konnte sich aber nur eine Stunde im Monat leisten. Der Instrumentenmacher Mr Fortieri hatte ihr sein Pioneer-Gerät geliehen, ein Wunderwerk der Technik, das allerdings schwer wie Blei war. Ich hatte ihr geholfen, es nach Hause zu schleppen.
Mr Fortieri wohnte auf der Northwest Side, und es war eine Tagesreise für uns, hin- und wieder zurückzukommen. Mit der Illinois Central ins Zentrum, dann mit der Ravenswood-Hochbahn nach Foster und dann die lange Busfahrt nach Harlem, wo Mr Fortieri in einer italienischen Enklave wohnte. Während er und meine Mutter über Musik redeten, immer auf Italienisch, wurde ich mit einem Vierteldollar zu Umbria’s an der Ecke geschickt, wo ich mir Kekse oder ein Eis kaufen durfte.
Als er anbot, ihr das Tonbandgerät zu leihen, lehnte sie, wie es sich gehörte, zweimal bescheiden ab, aber ich wusste, dass sie seit Monaten mit behutsamen Andeutungen darauf hingewiesen hatte, wie sehr sie es brauchte. Ich half ihr, das schwere Gerät in eine Decke einzuschlagen, und als wir von der Hochbahn in den Zug stiegen, trugen wir es zu zweit. Sie erlaubte mir, mit einer Freundin das Theaterstück aufzunehmen, das wir geschrieben hatten, aber Boom-Boom durfte noch nicht einmal in die Nähe des teuren Rekorders.
Ich legte die Bänder zur Seite. Wenn ich ein Geschäft fand, wo man sie auf CD überspielen konnte, würde ich ihre Stimme noch einmal hören können. Im Grunde konnte ich Petra dankbar sein, dass sie mich veranlasst hatte, die Truhe zu öffnen. Womöglich hätte ich sonst nie mehr an diese Tonbänder gedacht.
Ich fand auch ein paar liebevolle Zettel meines Vaters an meine Mutter und einen Brief, den er mir geschrieben hatte, als ich meinen Universitätsabschluss machte. Ich setzte mich auf den Klavierschemel, um ihn zu lesen.
Du weißt, wie stolz ich darauf bin, dass Du als erstes Mitglied unserer Familie ein College besucht hast. Ich wünschte, Deine Mutter wäre noch bei uns. Ich wünsche mir das an jedem Tag, aber heute besonders. Du weißt, dass sie jeden Vierteldollar gespart hat, den sie mit ihren Klavierstunden verdiente, um Dir diese Chance zu geben, und Du hast sie genutzt. Wir sind so stolz auf Dich.
Tori, alles, was Du tust, macht mich stolz, dein Vater zu sein. Aber Du musst lernen, Dein heftiges Temperament zu beherrschen. Ich sehe so viel Wut auf den Straßen und sogar in unserer eigenen Familie. Die Menschen lassen sich von ihrem Zorn treiben, und eine einzige böse Sekunde kann Dein Leben für immer zum Schlechten verändern. Ich wünschte, es gäbe nichts in meinem Leben, was ich bedaure, aber auch ich habe ein paar Entscheidungen getroffen, mit denen ich leben muss. Du stehst jetzt am Anfang und hast eine reine, weiße Weste und nichts zu bereuen. Ich will, dass das immer so bleibt.
In Liebe, Dad
Den Brief hatte ich völlig vergessen. Ich las ihn mehrfach, und dabei vermisste ich meinen Vater und die Liebe, mit der mich meine Eltern umgeben hatten, ganz schrecklich. Ich dachte an die vielen Gelegenheiten, bei denen ich mich von meinem hitzigen Temperament hatte hinreißen lassen und schwierige in nicht lösbare Situationen verwandelt hatte. Selbst gestern noch, als ich mit Arnie Coleman gesprochen hatte. Oder vor einer halben Stunde, mit Petra. Ich könnte so viel besser mit den Menschen auskommen, wenn ich nicht immer als Erste schießen würde.
Ich legte den Brief in eine Plastikhülle, um ihn später in der Stadt rahmen zu lassen. Dabei fragte ich mich, was mein gütiger, freundlicher Vater getan haben könnte, das er so bedauerte, dass er es sogar in diesem Brief erwähnte. Die Vorstellung, dass es womöglich mit Steve Sawyer zu tun hatte, war mir unerträglich.
Rasch warf ich noch einen Blick in den Karton mit den übrigen Erinnerungsstücken an meinen Vater. Ich hatte das Belobigungsschreiben aufgehoben, das er 1962 erhalten hatte, weil er einen bewaffneten Raubüberfall unterbunden hatte, seinen Ehering und ein paar andere Dinge. Erstaunlicherweise fand
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