Harlekins Mond
Treesa einst Rachel Visioaufzeichnungen von der Erde gezeigt hatte. Im Augenblick war auf der Bildfläche der Hohe Rat zu sehen; alle fünf Mitglieder saßen an einem hufeisenförmigen Tisch. Leere Tassen und Teller machten deutlich, dass die Versammlung bereits einige Zeit andauerte.
Rachel öffnete den Mund, um Ali zu fragen, wieso sie hier sei, doch Ali machte nur »Schhhht!« und deutete auf den Schirm. Rachel ließ sich vor ihr auf dem Boden nieder. Ali sagte: »Ich glaube, du kommst tatsächlich genau richtig.«
Soeben sprach der Captain. »Ich stelle diese Angelegenheit zur Diskussion.«
»Was ist da los?« Rachel flüsterte, als ob die Räte sie hören könnten.
Ali antwortete: »Ma Liren hat vorgeschlagen, dich dafür zu bestrafen, dass du so impertinent warst, eigene Entscheidungen zu treffen.«
Rachel biss sich auf die Lippen und starrte auf den Schirm. Ging es dort um sie?
In Lirens angespannten Kiefermuskeln kam ihr Trotz zum Ausdruck, doch sie sah niemanden an, sondern blickte nur unverwandt geradeaus und sagte: »Für das Protokoll verlange ich eine Angabe Ihrer Gründe.«
Treesa nahm eine Einstellung an ihrem Armbandgerät vor, woraufhin sich der Blickwinkel der Kamera entsprechend veränderte.
Die Stimme des Captains klang nun, als wäre er mit ihnen im selben Raum. Die Kamera zoomte so nahe heran, dass sein Gesicht die ganze Wand füllte. Die Falten um seine Augen herum wurden zu schattigen Schluchten, und seine Pupillen waren schwarz und klar. Auf Rachel wirkte es, als starre er sie an, obwohl ihr klar war, dass er in Wirklichkeit direkt zu Liren sprach.
»Liren, dieser Schritt fällt mir nicht leicht.« Er räusperte sich, ließ den Blick durch den Raum schweifen, richtete ihn dann erneut auf Liren und ließ ihn auf ihr ruhen. »Ihre politische Laufbahn ist makellos, und ohne Ihre Kompromisslosigkeit und Zielstrebigkeit wären wir womöglich nie aus dem Solsystem entkommen. Auf Selene kann man jedoch beobachten, wie dieselbe unnachgiebige und auch unbelehrbare Geisteshaltung alles bedroht, auf das wir hingearbeitet haben. Ihr letztes Ansinnen, Ihr Versuch, uns dazu zu bringen, dass wir Rachel Vanowen des Schiffes verweisen, steht offenkundig in einem völligen Missverhältnis zu dem Ausmaß ihres Ungehorsams. Sie hat keinerlei Regeln verletzt, von denen wir sie je in Kenntnis gesetzt hätten. Vielmehr hat sie Fürsorge für ihre Freundin und Schülerin gezeigt. Ihre Einstellung sollte gefördert werden, nicht verboten.«
Niemand sagte etwas, weder auf dem Schirm noch in Treesas Hütte. In der Stille hörte Rachel ihre eigenen Atemzüge.
Der Captain fuhr fort: »Aber hier geht es nicht um Rachel, und ich möchte auch nicht, dass Sie glauben, dass es das täte.«
Rachel seufzte erleichtert. Sie wollte nicht Gegenstand einer Sitzung des Hohen Rates sein. Mit ihrem abendlichen Unterricht brach sie zwar keine ausdrücklichen Bestimmungen, doch die Auswahl ihrer Themen hätte im Rat mit Sicherheit für hochgezogene Augenbrauen gesorgt, falls man dort darauf aufmerksam geworden wäre. Die Stimme des Captains veranlasste sie, ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schirm zuzuwenden. »Ich habe den größten Teil der vergangenen Nacht damit verbracht, mir noch einmal Aufzeichnungen verschiedener Ereignisse auf Selene anzusehen. In den vergangenen paar Jahren haben die Entscheidungen, die zu treffen wir Ihnen erlaubt haben« – eine weitere Pause – »auch wenn das heißt, dass uns eine gewisse Mitschuld trifft« – der Captain fuhr sich mit der Zunge über die Lippen – »haben diese Entscheidungen den Erfolg unseres Unterfangens hier gefährdet. Unsere Absicht bei der Konzeption der Mondkinder bestand darin, Menschen heranzuziehen, die auf Selene arbeiten können – Arbeit, die zu erledigen wir nicht selbst riskieren können oder für die wir nicht über genügend Arbeitskräfte verfügen. Sie bestand nicht darin, uns Sklaven zuzulegen. Aber genau das haben wir getan – und die Sklaverei wurde schon Jahrhunderte, bevor wir Sol verlassen haben, abgeschafft. Die Mondgeborenen müssen wie die erdgeborenen Kolonisten als Bürger ausgebildet werden und in Zukunft ein größeres Mitspracherecht erhalten.« Er räusperte sich. »Wir alle, jeder Einzelne von uns, hat die Flucht ergriffen, weil wir uns vor dem gefürchtet haben, was aus der Erde geworden war.« Der Captain sah in die Runde, und obwohl er zweifellos seinen Blick über die Mitglieder des Hohen Rates wandern ließ, wirkte es, als er schaute
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