Harlekins Mond
und drückte sie. Eine lange Zeit verharrten sie so, ohne etwas zu sagen, Andrew hinter ihr stehend, Rachel zusammengekauert zu seinen Füßen. Ursula hatte den Räten nicht getraut. Vor all diesen Jahren hatte sie sich an das gehalten, was Rachel ihr geraten hatte und ihr Möglichstes getan, um hart zu arbeiten und eine gute Schülerin zu sein. Und sie war gestorben. Andrew traute den Räten ebenfalls nicht. Im Geiste hörte sie wieder die Worte: »Nur ein Mondgeborener.« Sie raffte sich auf, warf sich Andrew in die Arme und schluchzte erneut Tränen der Wut. Die hatten einfach nicht das Recht, so etwas zu tun!
Andrew roch nach Schmieröl und Schweiß – ein guter Geruch, ein Geruch nach Arbeit, nicht nach Tod oder Krankheit. Rachel hätte gern gegen seine Schulter geschrien. Stattdessen löste sie sich von ihm. »Sie bauen da etwas, das uns alle das Leben kosten könnte«, sagte sie.
Andrew blickte auf sie herunter, und in seinen Augen spiegelte sich ihr eigener Zorn. Sie fragte: »Was weißt du über den Teilchenbeschleuniger?«, trat einen Schritt von ihm zurück und beobachtete sein Gesicht.
»Erklärst du es mir?«
Die Erklärungen gestalteten sich schwierig. Andrew besaß kein besonders ausgeprägtes Mathematikverständnis, kein Gefühl für Mengen- oder Größenverhältnisse. Dennoch brachte Rachel den Sachverhalt für sich selbst in anschauliche Form, während sie ihn in Worte fasste.
Materie plus Antimaterie ergab Feuer. Ließ man eine AntiWassermelone fallen, vernichtete man Selene.
Zwölfhundert Kilogramm für die Reise zum Ymir.
Rachel erwähnte nichts von Untertan, Treesa oder Ali, doch Andrew war es inzwischen gewohnt, dass sie über zahlreiche Dinge Bescheid wusste. Er fragte nicht, woher sie ihre Informationen bezog, doch er stellte Fragen über die Antimaterie, über das Projekt und über den vorgesehenen Zeitrahmen. Dann nahm er ihre Hand und sagte: »Rachel, wir müssen handeln. Du bist doch jetzt bestimmt auf meiner Seite!«
»Wobei?« Sie schreckte ein wenig aus ihrem Schmerz heraus, spürte, welch gewaltigen Fehler sie möglicherweise gemacht hatte. In diesem Augenblick hasste sie die Räte, sie hasste sie alle. Hasste, was sie ihr angetan hatten. Doch sie waren zu mächtig. Sie musste sich etwas überlegen – sich einen Plan ausdenken.
»Ich weiß es noch nicht. Bist du dabei?«, fragte Andrew.
Sie schüttelte den Kopf. »Im Augenblick kannst du nichts tun, was nicht dazu führen würde, dass Menschen sterben. Dass die Räte dich töten. Dass sie jeden töten, den du mit dir nimmst. Jacobs Tod war die Folge einer Schreckreaktion – es war beinahe ein Unfall. Beinahe. Es macht mich sehr, sehr wütend. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um gegen sie loszuschlagen. Sie würden dich umbringen, und es hätte schlimme Folgen für uns alle. Ich werde dir jetzt helfen, etwas zu planen -ja, das werde ich. Aber keinen sofortigen Gegenschlag.« Zitternd machte sie einen tiefen Yoga-Atemzug, arbeitete mit den Bauchmuskeln, wie Gabriel es ihr beigebracht hatte; es half ihr, sich zu beruhigen – zumindest ein wenig. »Erinnerst du dich noch, dass du mir in der Wasserträger versprochen hast, nichts Gewaltsames zu unternehmen, ohne mir vorher Bescheid zu geben?«
»Aber da habe ich auch noch nicht gewusst, dass so etwas passieren würde. Ich bin es leid, mich zu verstecken, und jetzt rennt uns die Zeit davon. Die sind schon dabei, den Teilchenbeschleuniger zu bauen.«
»Andrew – lass uns das in Ruhe besprechen.« Sie griff nach seiner Hand, hielt sie fest. »Es ist noch Zeit. Zumindest ein wenig.«
»Willst du warten, bis noch mehr Menschen sterben? Jetzt, in diesem Augenblick, sind alle anderen ebenso wütend wie ich.« Er schaute auf sie herunter, der Blick in seinen Augen merkwürdig sanft. »Und du empfindest genauso.«
Rachel hätte ihm am liebsten zugestimmt. Selbst wenn ihr Zorn all die Dinge zunichtemachen würde, an die sie glaubte. Mit Andrew gemeinsame Sache zu machen würde alles nur noch verschlimmern; es würde bedeuten, sich auf einen Kampf einzulassen, von dem sie wusste, dass sie ihn nicht gewinnen konnte; zu kämpfen, während sich vielleicht noch immer eine bessere Lösung aushandeln ließ. Sie hatte Gabriel und Ali und Treesa und John auf ihrer Seite. Und Bruce. Und mehr noch -ihre Schüler, oder zumindest einige von ihnen. Harry und Gloria … vielleicht genügte das ja bereits. Zuerst musste sie Andrew aufhalten. Ihn wenigstens bremsen. Wieso hatte sie ihm
Weitere Kostenlose Bücher