Harlekins Mond
feststellen, ob es hier oben sonst noch jemanden gibt, der mir helfen könnte. Wie steht es mit Gabriel selbst? Sieht er das Problem?«
Ihre Frage war eindeutig an Astronaut gerichtet. Er erwiderte: »Er hat nie mit mir darüber geredet. Für gewöhnlich gelten seine Fragen spezifischen wissenschaftlichen Themenbereichen; beispielsweise bittet er mich, den nächsten wahrscheinlichen Zeitpunkt für einen atmosphärischen Umschwung zu bestimmen, oder er fragt mich, wie man leichter Energie von der Solette beziehen kann.«
»Eine verlorene Sache also?«
»Er debattiert mit dem Hohen Rat, aber letzen Endes befolgt er immer dessen Befehle.«
»Befolgst du immer deine Befehle?« Treesa schnitt einen Topf Rosmarin zurück, dann hob sie die Hände vors Gesicht, schnupperte an ihnen und lächelte.
»Ja.«
Treesa lachte wieder, ließ sich im Schneidersitz nieder und schaute zu dem Baum hinauf.
»Gehorchst du Befehlen, Treesa?«
»Das erwartet niemand von mir; ich bin geringfügig missgestimmt.«
»Du hast die Frage nicht beantwortet.«
»Meine Antwort lautet: Das tue ich. Aber manchmal breche ich die Regeln.«
In den Jahren, seit sie vermehrten Kontakt mit Astronaut pflegte, hatte sich Treesas Fähigkeit verbessert, ihre Gedanken beieinanderzuhalten, für sich selbst zu sorgen oder gut durchdachte Fragen zu stellen. Aber war sie tatsächlich weniger missgestimmt, oder half Astronaut ihr nur dabei, die Symptome zu beseitigen? Treesa war der Auffassung, eine Regel sei etwas anderes als ein Befehl.
Astronaut überlegte. War dem so? Mit Menschen zu arbeiten war leicht, wenn es darum ging, Schiffe zu steuern oder mathematische Modelle zu erstellen. Doch je mehr Astronaut mit ihnen an ihnen selbst arbeitete, auf desto mehr Widersprüche stieß er. Im Laufe der vergangenen Wochen hatte es zahlreiche Widersprüchlichkeiten in Treesas Verhalten gegeben. Für viele davon gab es keine Auflösung – wie beispielsweise für die Furcht vor Maschinen und den gleichzeitigen Wunsch, sich ihrer zu bedienen. Menschen lagen im Widerstreit mit sich selbst.
Es war paradox!
KAPITEL 22
DIE EINBERUFUNG
Drei Tage hintereinander holte Kyu Rachel einfach morgens an der Tür ab und brachte sie zu dem Labor im Garten. Weder Kyu noch Gabriel antworteten ihr auf dem Armbandgerät, außer, um ihr weiteren Lehrstoff hochzuladen. Rachel befasste sich mit der Identifizierung von Pflanzen und machte sich Sorgen. Man hatte sie noch nie so lange allein gelassen. Ging irgendetwas vor sich, von dem man ihr nichts erzählte?
Die Bibliothek teilte ihr mit, sie habe eine Nachricht von Ursula. Es war jedoch nicht die Fortsetzung ihres Streits wegen Harry, die Rachel erwartet hatte. »Ich vermisse dich sehr. Nick ist über das Wochenende heimgekommen und hat mir mit deiner Parzelle geholfen. Er hat gesagt, er vermisst dich, und er hat mich dafür geneckt, dass ich immer so vorsichtig bin. Das hat mir gefallen, ich bin dabei rot geworden. Hat es“ mit dir und Harry auch so angefangen?«
Bevor Rachel eine Antwort abfassen konnte, betrat Gabriel das kleine Labor, in dem sie Präparate von Pflanzen anstarrte, setzte sich neben sie und sah ihr beim Arbeiten zu.
»Kann ich nach Hause gehen?«, platzte sie heraus.
Gabriel schüttelte den Kopf. »Hast du ein paar Minuten Zeit, dich zu unterhalten?«
Nun, natürlich hatte er seinen eigenen Zeitplan. Sie seufzte. »Sicher, wenn du willst. Reden wir hier?«
»Gehen wir und setzen uns auf Yggdrasil.«
Gabriel entschied sich für einen dicken Ast über dem Fluss, nahe genug am Stamm, dass sie sich festhalten mussten, um in der Beinahe-Schwerelosigkeit nicht davonzutreiben. Es war ein hübscher Flecken; der Fluss, der sie ringförmig umlief, schimmerte bisweilen blau zwischen den Blättern hindurch.
Gabriel sagte: »Wir hatten gestern eine Sitzung, in der es um dich ging.«
Um sie? »Und?«
»Am Anfang, als du hergekommen bist, hatten wir gesagt, wir würden nach drei Monaten deine Fortschritte bewerten. Nun, inzwischen bist du fast so lange hier. Du hast dich bis jetzt gut gemacht. Kyu freut sich, und Ma Liren ist froh darüber, wie gut du dich geführt hast, wie fleißig du gearbeitet und wie viel du gelernt hast. Alle machen einen zufriedenen Eindruck.«
»Kann ich nach Hause gehen – nur für einen kurzen Besuch?«
»Nein.«
Gabriels Antwort war schrecklich schnell erfolgt. »Kann ich endgültig nach Hause gehen?«
»Noch nicht. Rachel, du weißt, dass wir bestimmte Pläne mit dir hatten, als du
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