Harlekins Mond
hierher kamst.«
»Ich habe nicht gewusst, dass ich so lange weg sein würde!« Rachel fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das inzwischen fast schulterlang war und hier oben beim Mittbaum lose und wild durcheinanderschwebte. Sie schaute Gabriel an. Er war immer der netteste von allen Räten gewesen. »Gabriel, es gefällt mir hier. Ich bin froh, dass du mich hierher mitgenommen hast. Ich möchte auch wiederkommen. Oft. Aber ich vermisse meinen Dad und Ursula und Harry …«
Gabriel blieb einen Moment lang stumm. Schließlich wandte er den Kopf und schaute sie direkt an. »Bei deinem Aufenthalt hier oben geht es um mehr als nur um deine Ausbildung. Der Hohe Rat, oder zumindest Kyu, wollte dich kennenlernen, weil wir etwas Bestimmtes mit dir vorhaben. Dich zu unterrichten und dich dann auf Selene einen Teil der Pflanztätigkeiten beaufsichtigen zu lassen.«
»Ich weiß; das hast du mir schon mal erzählt.«
Gabriel spielte an seinem Zopf herum, ließ ihn sich durch die Finger laufen. »Nun, wir möchten dir etwas schenken. Etwas, um dich für die harte Arbeit zu belohnen.« Er musterte sie mit gespannter Aufmerksamkeit. »Dieses Geschenk ist bedeutender, als dich nach Hause gehen zu lassen.«
Rachel spielte mit diesem Gedanken; welches Geschenk konnte ihr womöglich mehr bedeuten? Ihre Mom?
»Wie du weißt, sind Kyu und Ali sehr alt. Ich selbst bin seit mehr als 60.000 Jahren am Leben. Wir haben auf Selene schon einmal darüber gesprochen.«
Rachel nickte.
»Einen großen Teil dieser Jahre haben wir kalt verbracht -aber ich war auch insgesamt über tausend Jahre lang wach. Nun, wir bleiben jung, weil wir ›kalt‹ werden – und ich weiß, dass du schon davon gehört hast. Genau genommen rührt der Effekt vom Aufwachen her – davon, dass man in Zyklen lebt. Nun, ich kann es dir schlecht in allen Einzelheiten erklären, aber man wird dabei vollständig eingefroren. Der Vorgang des Aufwachens sorgt dafür, dass eine Menge Dinge im Körper repariert und einige auch ersetzt werden, sodass man am Ende gesünder ist als vorher. Das geschieht durch haarklein kontrollierte Bio-Nanotechnologie, ähnlich der, die wir für den ersten Schritt benutzt haben, um Selenes Oberfläche für die Bepflanzung vorzubereiten. Sie ist extrem wirkungsspezifisch –«
»Was bedeutet das, Gabriel? ›Wirkungsspezifisch‹, meine ich.« »Zum Teufel … es bedeutet, dass wir Angst haben. Wir fürchten uns vor den kleinen Maschinen.« Gabriel verzog das Gesicht. »Wir halten das Nano unter Verschluss, damit es nicht unkontrolliert zum Einsatz kommen kann. Es stellt bestimmte Dinge mit deinem Körper an, es kann Schäden innerhalb deiner Zellen reparieren, aber es tut nichts, worauf wir es nicht vorher programmiert haben. Es kann keinen zerstörten Schädel wiederherstellen oder das Gehirn rekonstruieren, es kann dir weder die Kniegelenke mit Karbonfasern auskleiden noch dir bessere Nieren wachsen lassen oder sonst etwas von diesem Irrsinn –« Er zwang sich, seinen Redefluss zu unterbrechen. Dann setzte er anders an: »Wenn wir es unter Kontrolle halten, bewahrt es uns davor, zu sterben.
Um jung zu bleiben ist es wichtig, dass man gelegentlich kalt wird. Und um unsere Aufgaben zu erfüllen benötigen wir mehr Zeit als uns in einer einfachen menschlichen Lebensspanne zur Verfügung stünde, wenn wir sie ohne Unterbrechungen von der Geburt bis zum Tode durchleben würden. Es wäre besser, einfach auf natürliche Weise geboren zu werden und zu sterben, aber manche von uns haben solch bedeutende Aufgaben, dass wir uns das nicht erlauben können. Verstehst du?«
»Ihr könnt nicht lange genug leben, um Selene aufzubauen und zu entwickeln, wenn ihr euch nicht einfrieren lasst?«
»So ist es. Und wir brauchen dich am nötigsten in ein paar Jahren, wenn die Kinder auf Selene älter geworden sind. Wir wollen, dass du möglichst lange jung bleibst, damit du Zeit hast, die Dinge anzuwenden, die wir dir beibringen. Der Hohe Rat hat beschlossen, dich für ein Jahr einzufrieren.«
Rachel blieb der Mund offen stehen, und ihr stockte der Atem in der Kehle. Ein ganzes Jahr! Auf Selene war der Winter fast vorüber. Es war doch vorgesehen, dass sie heimkehrte! Erst am vorigen Abend hatten sie und Harry einander noch geschrieben, dass sie sich bald wiedersehen würden.
»Kann ich vorher noch nach Aldrin gehen? Nur für eine Pflanzsaison? Damit ich anwenden kann, was ich hier gelernt habe?«
»Nein, Rachel, ich muss mich ebenfalls abkühlen –
Weitere Kostenlose Bücher