Harold - Einzlkind: Harold
Grüß mir die Frauen.«
Der Mathematiker und der Fliesenleger verlassen den Raum, sie beachten Melvin und Harold nicht weiter. Zurück bleibt ein Boxer auf einer Pritsche, in sich zusammengesunken, ein Körper, der im grellen Neonlicht sein wundes Antlitz preisgibt, ein Bild der Demut, der Schöpfung und der Allmacht.
Melvin räuspert sich. »Hallo?«
Keine Reaktion.
»Mr. Danger?«
Der Boxer dreht sich um. Ein schonungsloser Anblick, voll Schmerz und Trauer, an dem Forensiker ihre helle Freude hätten. Er hebt den Kopf ein wenig, die Nackenwirbel knacken, er versucht sich zu konzentrieren und blinzelt durch die geschwollenen Augen in Richtung Melvin.
»Ja?«
»Wir sind ... äh ... Fans.«
»Fans?« Seine Stimme klingt weich, nahezu unschuldig, als ob die Seele noch in Buttermilch schwämme.
»Um genauer zu sein, ich bin der 1. Vorsitzende des Jonny Danger Fanclubs, mein Name ist Melvin, und der nette ältere Herr neben mir ist Mr. Harold Bacon, der Kassenwart.«
»Nicht wahr.«
Kassenwart?
»Doch. Und wir sind hier, um mehr über Sie zu erfahren, über Ihre Kämpfe, Ihr Leben, Ihre Träume und Ihre Frauengeschichten. Ihre Fans wollen alles von Ihnen wissen.«
»Nicht wahr.«
Kassenwart?
»Doch. Wir basteln gerade an der Internetpräsenz. Und dafür benötigen wir so viele Informationen wie möglich.«
»Nicht wahr.«
»Doch. Mr. Danger ...«
»Nenn mich Jonny.« Sein Körper wirkt plötzlich straffer, seine Haltung ist aufrechter, die Lebensgeister kehren aus ihren Schmollwinkeln zurück.
»Mr. Danger, wie viele Kämpfe haben Sie als Profiboxer bestritten?«
»38.«
»Ihre Bilanz?«
»Ein Sieg, ein Unentschieden.«
»Sie haben 36 Mal verloren?«
»Knapp.«
»Nach Punkten?«
»Vier Mal.«
»32 Mal durch K. o.?«
»Knapp.«
»Jeweils?«
»Ja.«
»Beeindruckend.«
»Danke.«
»Können Sie gehen?«
»Ich denke schon.«
»Wie wäre es, wenn wir diesen ungastlichen Ort verlassen und zu Ihnen nach Hause fahren, um diese anregende Konversation bei einer Tasse Tee fortzusetzen?«
Kassenwart?
24
Harold findet nicht, dass er ein guter Kassenwart wäre. Buchhaltung zählt zwar durchaus zu seinen Steckenpferden, aber die finanzielle Verantwortung für ein ganzes Unternehmen zu tragen, ist ihm eine Nummer zu groß, da könnte er gar nicht mehr in Ruhe schlafen. Außerdem hat er momentan ganz andere Probleme.
Er hat die Queen überfahren. Sie stand einfach vor dem Supermarkt und hat gewunken. Jetzt liegt sie auf dem Boden und der Kopf ist ab. Melvin meint zwar, dass es nicht so schlimm sei, da keiner es gesehen habe und der Pappaufsteller schon vorher einige Dellen aufwies, aber Harold hat da kein gutes Gefühl. Die Queen zu überfahren, ob aus Pappe oder sonst wie, das geht nicht. Da ist man mit sieben Jahren Unglück noch gut bedient. Und das alles nur, weil Jonny Danger noch Bananen kaufen wollte.
Der Supermarkt gehört keiner Kette an. Er führt nur das Nötigste an Obst, Gemüse, Fleisch- und Milchprodukten, dafür aber ist er ein Eldorado für Haartönungen, Heimatfilme und Wundertiegel aller Art. Folkloristische Musik dudelt aus billigen Boxen, es riecht nach Vanille und Mandelholz. Kunden sind sonst keine zu sehen, bis auf den streunenden Hund, der sich, im Kreis drehend, in den Schwanz beißt. Hinter der Kühltheke steht eine dicke ausländische Frau mit einem Beil in der Hand und hackt Fischen die Köpfe ab. Die Kunden lässt sie dabei keinen Moment aus ihren tiefschwarzen Augen, die sagen, rechne nicht mit Verständnis für eine schlimme Kindheit, wenn du zu klauen gedenkst. Harold hat ein Déjà-vu. Kein schönes.
Es bleibt nur eins zu tun: Den Obststand finden und so schnell wie möglich wieder raus hier. Doch plötzlich schlägt die Tür auf, ein kleiner indischer Mann stürmt in den Laden und fuchtelt wild mit einem Schraubenzieher umher. Kurz vor Jonny Danger bleibt er stehen, der Kopf hochrot, die Augen eines Wahnsinnigen.
»Haben Sie die Queen überfahren?«
Jonny Danger wirkt verunsichert, er möchte nicht petzen, die Schuld aber auch nicht auf seine Schultern laden. »Ich wollte nur Bananen kaufen.«
»Wissen Sie, was das heißt? Sieben Jahre Unglück!«
Harold hat’s gleich gewusst. War ja klar, jetzt ist es Schwarz auf Weiß, da ist nichts mehr zu machen. Er wird nach Hause fahren und das Haus die nächsten sieben Jahre nicht mehr verlassen.
»Mein lieber Hindu«, mischt Melvin sich in das Gespräch ein, »haben Sie überhaupt eine Lizenz für die Queen?«
Der
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