Harold - Einzlkind: Harold
steht: Dr. Dr. Wagner. Neurochirurg. Wissenschaftlicher Leiter der Genforschung. Abteilung 2. Ali klopft an, und Harold ist überrascht, dass die Tür nicht in tausend Teile birst.
»Ja, bitte«, muffelt eine säuerliche Stimme im Verborgenen. Ali reißt die Tür auf, und die Gesellschaft folgt Jeremiah Al-Kasim ins Innere. Das Büro in der Größe einer Mehrzweckhalle ist spartanisch eingerichtet. Ein Schreibtisch, ein Stuhl, zwei lederne Sessel, ein Schrank und die Büste eines Griechen sphären den Minimalismus in taumelnde Höhen. Dr. Wagner steht an einem beleuchteten Kasten und schaut sich ein Gehirn an. Er dreht sich um und sogleich wird klar, dass es sich bei Dr. Wagner um eine außerordentliche Kapazität auf seinem Gebiet handeln muss. Seine hochgewachsene schlanke Gestalt ist von adliger Präsenz, die im weißen Kittel hervorragend zur Geltung kommt. Die moderne Hornbrille und die sorgsam nach hinten gegelten Haare sind als vage Andeutung von Individualität die brüchigen Accessoires eines Gesamtkunstwerks. Und obwohl er höchstens 40 sein kann, umgibt ihn eine natürliche Autorität, die qua seines Amtes auch den berechtigten Hauch der Arroganz zu Tage fördert.
»Ja?«
»Guten Tag, wir hätten gerne zweimal den Gentest«, sagt Jeremiah Al-Kasim.
»Bitte?«
»Den Gentest. Zweimal, für mich und meinen Sohn, bitte.«
Dr. Wagner mustert abschätzig die ungewöhnliche Klientel und hat das unbestimmte Gefühl, komisch sein zu müssen. »Dürfen es vielleicht auch noch 200 Gramm von der ungarischen Salami sein?«
»Nein, danke. Nur zweimal den Gentest, bitte.«
»Hören Sie, das ist hier kein Supermarkt. Wenn Sie mich dann bitte entschuldigen würden, ich habe zu tun.« Dr. Wagner tänzelt in eine ausweichende Bewegung, blickt jedoch jäh auf Alis flache Hand, der einfach nur seinen Arm ausgestreckt hat und relativ verständlich ein Stoppzeichen signalisiert. Der Arzt versteht die nonverbale Kommunikation recht gut, obwohl er studiert hat.
»Entschuldigen Sie, wenn ich mich irre, aber wir sind hier doch in einer Fachklinik für Gentests?«
»In etwa.«
»Großartig, dann hätten wir gerne zweimal den Gentest, bitte.«
Dr. Wagners kümmerliche Gabe zur Nachsicht ist dank seiner emotionalen Intelligenz auch in den dunkelsten Ecken seines Gewissens noch auffindbar, denn kontroverse Situationen, so hat er gelernt, bedürfen des Fingerspitzengefühls, insbesondere dann, wenn die menschliche Spezies involviert ist und sich diese zudem explizit atypisch verhält.
»Nun gut, wenden Sie sich bitte an den Empfang. Man wird Ihnen einen Termin geben. In fünf bis sechs Wochen werden Sie die Ergebnisse erhalten.«
»Vielen Dank für dieses großzügige Angebot. Aber wir würden es vorziehen, die Ergebnisse in zwei Stunden zu erhalten.«
Melvin nickt und geht davon aus, dass der Arzt nun verstanden hat, dass ihm das cogito ergo sum nicht nur eine Floskel, sondern auch ein Begriff ist, dem praktische Bedeutung zukommt, dass er also gerne lebt und sich der kleinen und großen Wunder eines jeden Tages bewusst ist. Aber Dr. Wagner ist doch nicht so klug, wie er aussieht, obwohl er eine sehr schöne Brille trägt, durch die ein nahendes Ungemach, so ihr Träger nicht die Augen schließt, vortrefflich zu erkennen ist.
»Möchten Sie, dass ich den Sicherheitsdienst rufe?«
»Nein.«
»Na, das kann ich mir denken, würden Sie dann bitte gehen?«
»Lieber Doktor Wagner, wir werden Ihrem Wunsch gerne nachkommen, aber vorher hätten wir gerne zweimal den Gentest, bitte.«
»Also jetzt ...« Jeremiah Al-Kasim nimmt den Arzt mit einer freundschaftlichen Umarmung, die, so viel ist gewiss, blaue Flecken hinterlassen wird, beiseite und schreitet mit ihm zum Fenster, das einen wunderbaren Blick auf Liverpools Panorama bietet, auf das geschäftige Treiben der wuselnden Menschen, die einem Volk der Ameisen gleich ihr Tagwerk verrichten.
»Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Eine wahre Geschichte. Sie begab sich um das Jahr 720 vor des Propheten Jesu Geburt. Beflügeln Sie Ihre Phantasie in das Mesopotamien zu jener Zeit. Ein assyrischer Hirte, nennen wir ihn der Einfachheit halber Ali, war ein gesegneter Mann, der gleich mehrere Ziegen sein Eigen nannte und sich tagein und tagaus um sie kümmerte. Er sorgte sich um jede einzelne, aber um eine ganz besonders. Sie hatte ein gleichmäßiges graues Fell, das in der Sonne wie Silber erstrahlte, und wenn sie lief, hielt man sie für eine Erscheinung, und wenn sie
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