Harper Connelly 01 - Grabesstimmen-neu-ok-10.12.11
rasiert, und seine braunen Augen sahen mich
ernsthaft an.
»Leider
werden mein Bruder und ich Sarne in der nächsten Stunde verlassen«, sagte ich
langsam. »Wir fahren nur noch kurz bei Helen Hopkins vorbei, weil sie darum
gebeten hat. Danach sind wir weg.«
»Wie
schade«, sagte er. »Dann hab ich die Gelegenheit wohl verpasst. Aber wenn Sie
mal wieder geschäftlich in der Nähe sind, rufen Sie mich an?« Er drückte mir
seine Visitenkarte in die Hand.
»Danke«,
sagte ich unverbindlich, und nach einem weiteren Händeschütteln und
Blicketauschen verließ ich sein Büro mit dem Scheck in der Hand.
Ich
versuchte Tolliver von der merkwürdigen Begegnung zu erzählen, die ich soeben
gehabt hatte, aber ich glaube, er war genervt, weil er so lange vor der
Anwaltskanzlei hatte warten müssen. Tolliver war in der Tat sehr schweigsam,
während er das Haus von Mrs Hopkins ansteuerte, das sich als ärmliches,
schuhkartonartiges Gebäude in einer ebenso ärmlichen Straße entpuppte.
Hollis
Boxleitner hatte nicht viel Gutes über die Vergangenheit seiner Schwiegermutter
erzählt, und ich hatte mir ein eher negatives Bild von Helen Hopkins gemacht.
Als sie die Tür öffnete, war ich überrascht, eine ordentliche, dünne Frau mit
braunen Haaren und lebhaften blauen Augen zu sehen. Sie musste auf ihre Art mal
sehr attraktiv gewesen sein. Jetzt wirkte sie eher wie eine ausgetrocknete
Muschel. Sie trug ein geblümtes T-Shirt zu khakifarbenen Hosen, und ihr Gesicht
war kaum breiter als meine ohnehin schmale Hand.
»Ich bin
Harper Connelly«, sagte ich, »und das ist mein Bruder Tolliver Lang.«
»Helen
Hopkins. Gott segne Sie, dass Sie zu mir rausgefahren sind«, sagte sie hastig.
»Bitte kommen Sie herein und nehmen Sie Platz.« Sie stand mitten in dem
winzigen Wohnzimmer und machte eine einladende Handbewegung. Es war völlig
zugestellt mit Möbeln und dermaßen vollgestopft, dass ich eine Weile brauchte,
um zu bemerken, wie blitzblank der Raum trotz allem war. An der Wand hing ein
Regal mit Nippesfiguren aus Glas. Und in der Mitte des billigen Couchtisches
lag eine riesige Bibel. Daneben hatte sie zwei gestärkte Spitzendeckchen
platziert, in deren Mitte sich je ein gläserner Kerzenständer mit einer weißen
Kerze befand.
Ich weiß,
was ein Altar ist, wenn ich einen sehe.
Und dann die
Fotos. Zwei Mädchen schmückten in mehrfacher Ausführung das Zimmer. Beginnend
mit der Nordwand, wurden sie auf den Bildern immer älter. Sally und Teenie
kamen zur Welt, gingen in die Grundschule, trugen Halloweenkostüme, tanzten,
machten ihren Schulabschluss, gingen auf den Abschlussball und heirateten
(zumindest, was Sally betraf). Dieses Zimmer stellte das gesamte Leben der
Mädchen aus, die beide ermordet worden waren. Das letzte Foto war ein
verblichenes Bild von einem weißen, mit Nelken geschmückten Sarg, der vor der
Kirche aufgebahrt worden war. Neben diesem Bild, das eindeutig von Sallys
Begräbnis stammte, war noch ein Platz frei. Schon bald würde dort das Foto von
Teenies Sarg hängen. Ich schluckte schwer.
»Ich bin
jetzt seit zweiunddreißig Monaten trocken«, sagte Helen Hopkins und wies uns
an, in den beiden Sesseln gegenüber vom Sofa Platz zu nehmen, wo sie sich am
Rande eines Kissens niederließ.
»Ich
gratuliere. Das freut mich zu hören«, sagte ich.
»Wenn Sie
länger als zehn Minuten in dieser Stadt waren, haben Sie bestimmt ein paar
schlechte Dinge über mich gehört. Ich habe jahrelang getrunken und Unzucht
getrieben. Aber jetzt bin ich mit Gottes Hilfe und einiger Willenskraft endlich
wieder trocken.«
Tolliver
nickte, zum Zeichen, dass wir ihr zuhörten.
»Meine
beiden Mädchen sind tot«, fuhr Helen Hopkins fort. Ihre Stimme war fest, fast
barsch, aber ihre Kiefermuskeln waren vor Schmerz deutlich angespannt. »Ich war
jahrelang ohne Mann. Niemand hat mir geholfen, alles musste ich allein
bewältigen. Ich möchte wissen, wer Sie hierherbestellt hat, wer Sie sind und
was Sie da draußen in den Wäldern gemacht haben, um mein Mädchen zu finden.
Noch bis gestern wusste ich von nichts, bis mich Hollis anrief.«
Direkter
konnte man es nicht sagen. Tolliver und ich sahen uns an. Diese Frau hatte
große Ähnlichkeit mit unserer Mutter - beziehungsweise meiner Mutter und
Tollivers Stiefmutter -, nur dass meine Mutter Jura studiert hatte und nie
trocken geworden war. Tolliver zuckte unmerklich die Achseln, was ich mit einem
ebenso unmerklichen Nicken erwiderte.
»Ich finde
Leichen, Mrs Hopkins. Ich wurde als
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