Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
wirklich half, herauszufinden, was mit ihrer Tochter
passiert war. Dann wüssten sie wenigstens, dass sie sich nicht mehr in der
Gewalt irgendeines Verrückten befand und schrecklich leiden musste.
Ich ertappte
mich bei dem Wunsch, mehr Zeit mit der Leiche gehabt zu haben. Die Identität
der unzulässigen Insassin des Grabes hatte mich so überrascht, dass ich nicht
mehr genügend Kraft gehabt hatte, die letzten Minuten im Leben des Mädchens zu
erspüren. Ich hatte nur ein blaues Kissen gesehen, ein kurzes Aufblitzen der
langen Sekunden, in denen Tabitha bewusstlos geworden und schließlich gestorben
war - als hätte sie den Tod zunächst imitiert, bevor sie ihn tatsächlich
erlitt.
Ich glaube
nicht, dass der Tod und das Leben zwei Seiten einer Medaille sind. Für mich ist
das Quatsch. Ich kann nicht sagen, dass Tabitha ihren Frieden bei Gott gefunden
hat, weil Gott mir nichts davon erzählt hat. Außerdem hatte ich irgendwie ein
komisches Gefühl, als ich mit der Leiche kommunizierte. Ein Gefühl, das ich
bisher nur selten erlebt habe. Ich versuchte vergeblich, ihm auf den Grund zu
gehen. Aber es würde mich verfolgen, bis ich es begriff.
Ich habe
schon viele Tote gesehen - richtig viele . Für mich ist der Tod eine
Selbstverständlichkeit, so wie für andere der Schlaf oder das Essen. Der Tod
ist eine Notwendigkeit für den Menschen, eine einsame Reise ins Unbekannte.
Aber Tabitha hatte diese Reise viel zu früh angetreten, nach schmerzhaften,
angstvollen Strapazen. Sie tat mir leid wegen der besonderen Umstände ihres
Todes. Diese hatten irgendwie Spuren an ihr hinterlassen, wenn ich auch noch
nicht genau wusste, welche. Ich beschloss, später noch einmal darüber
nachzudenken, vielleicht würde mir ein zweiter Ausflug zum Friedhof helfen. Ein
weiterer Kontakt mit der Leiche war allerdings unwahrscheinlich.
Ich drehte
mich auf die Seite und stopfte mir ein Kissen unter den Kopf. Meine Gedanken
nahmen eine Richtung, die mir so vertraut ist, dass ich sie in- und auswendig
kenne. Sie gingen zu meiner Schwester Cameron. Mittlerweile
kann ich mich nur noch verschwommen an ihr Gesicht erinnern. Oder aber es nimmt
die Konturen an, die es auf ihrem letzten Klassenfoto hatte, das ich in meinem
Geldbeutel mit mir herumtrage.
Da ich
Tabithas Leiche auf eine so zufällige und unerwartete Art entdeckt hatte,
machte mir das irgendwie neue Hoffnung, eines Tages doch noch auf die Überreste
meiner Schwester Cameron zu stoßen.
Cameron war seit sechs Jahren verschwunden. Wie Tabitha hatte
sie jemand aus ihrem Alltag gerissen und nur noch ihren Rucksack als Zeugen
ihres Verschwindens am Straßenrand zurückgelassen. Als Cameron an dem bewussten Tag nicht nach Hause kam, begann ich nach ihr zu
suchen. Ich rüttelte meine Mutter so lange wach, bis ich das Gefühl hatte, sie
könnte wenigstens ansatzweise auf Mariella und Gracie aufpassen. Anschließend
lief ich durch die sengende Hitze. Ich nahm den Weg, den Cameron benutzte, wenn sie von der Schule nach Hause ging. Es dämmerte bereits. Cameron war an diesem Tag länger in der Schule geblieben, um
die Bühne für eine Tanzveranstaltung zu dekorieren; ich glaube, es war der
Abschlussball.
Ich hatte
ihren Rucksack voller Schulbücher, Hefte, Briefchen von Klassenkameraden,
kaputten Bleistiften und Kleingeld gefunden. Das war alles, was noch von Cameron übrig war. Die Polizei hatte ihn lange behalten, war
alle Fächer durchgegangen und hatte mich nach der Bedeutung eines jeden Briefchens
gefragt. Irgendwann hatten wir um seine Rückgabe gebeten. Seitdem mein Bruder
und ich unserer Arbeit nachgehen und ständig unterwegs sind, liegt der Rucksack
in unserem Kofferraum.
Als Tolliver
hereinkam, lag ich immer noch auf dem Bett. Ich hatte mich erneut umgedreht,
lag nun flach auf dem Rücken, starrte an die Decke und dachte an meine
Schwester.
»Das Hotel
schickt einen Wagen, um Art vom Flughafen abzuholen«, sagte er. »Ich habe alles
organisiert.«
»Danke«,
erwiderte ich und rückte zur Seite, um ihm Platz zu machen. Er legte sich auf
die andere Hälfte des riesigen Bettes, die Schuhe hatte er vorher brav
ausgezogen. Ich gab ihm ein paar Kissen ab.
»Ich habe
noch mal über die Sache auf dem Friedhof nachgedacht«, hob er an und ließ mir
Zeit, mich mental wieder auf die jüngere Vergangenheit zu konzentrieren.
»Ja«, sagte
ich und ließ ihn wissen, dass ich ihm zuhörte.
»Ist dir der
Mann aufgefallen, der sich unter die jungen Studenten gemischt hatte?«
»Ja, du
meinst
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