Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
als nehme er mich zum ersten Mal
als ganz normalen Menschen wahr. Der Student hielt den angetrunkenen Professor
fest und grinste unmerklich.
Inzwischen
war einer der Hotelangestellten um die Rezeption herumgegangen und kam auf uns
zu, ohne jedoch den Eindruck zu erwecken, er habe es besonders eilig. Es war
der sympathische junge Mann von Mitte zwanzig, der uns bereits eingecheckt
hatte. »Gibt es ein Problem, Miss Connelly?«
»Seien Sie
still!«, zischte Dr. Nunley, als könnte er mich so zum Schweigen bringen. Daran
konnte man sehen, dass er normalerweise ausschließlich mit wohlerzogenen
Kindern aus privilegierten Familien zu tun hatte.
»Ja, es gibt
ein Problem«, sagte ich zu dem jungen Mann, und Clyde Nunleys
Gesicht verzerrte sich überrascht. Aus irgendeinem Grund hatte er nicht damit
gerechnet, dass ich mich über ihn beschweren würde.
»Dieser Mann
hat mich gepackt, als ich die Lobby betrat, und will mich einfach nicht in Ruhe
lassen. Wäre dieser Gentleman nicht gewesen, hätte er mich vielleicht sogar
geschlagen.« Natürlich war das reine Spekulation, aber Dr. Nunley hatte
eindeutig Streit gesucht, und wenn er dachte, ich hätte schon vergessen, dass er
meinen Bruder als Zuhälter bezeichnet hatte, hatte er sich geschnitten.
»Kennen Sie
ihn, Miss Connelly?«
»Ich kenne
ihn nicht«, sagte ich mit fester Stimme. Philosophisch betrachtet sagte ich
durchaus die Wahrheit. Wer kennt schon wirklich einen anderen Menschen? Solange
die Angestellten dachten, Mr Nunley sei ein Fremder von
der Straße, der mich belästigte, würden sie mit Sicherheit für mich Partei
ergreifen. Doch sobald ich die Worte »Dr.« und »Bingham-College« aussprach,
würde man mir die belästigte Frau schon nicht mehr so leicht abnehmen.
Mein neuer
Assistent, der Student, sagte daraufhin: »In diesem Fall halte ich es für das
Beste, wenn Sie jetzt gehen, Mister. Und da Sie betrunken sind, würde ich Ihnen
sehr raten, ein Taxi zu nehmen.«
Der
Hotelangestellte machte eine höfliche Geste in Richtung Tür, als sei Dr. Nunley
ein Ehrengast. »Eine unserer Empfangsdamen wird Ihnen gern ein Taxi rufen«,
sagte er munter. »Bitte hier entlang.«
Ehe sich's
Dr. Nunley versah, stand er draußen auf dem Bürgersteig, und zwar unter den
wachsamen Augen zweier Portiers, die auf vorfahrende Wagen warteten.
»Danke«,
sagte ich zu dem Studenten. »Ich habe Ihren Namen gestern nicht richtig
verstanden.«
»Rick
Goldman.«
»Harper Connelly«, sagte ich mit einem kleinen Nicken. Ich
gab ihm die Hand, obwohl meine leicht zitterte. »Wie kommt es, dass Sie genau
im richtigen Moment zur Stelle sind, Mr Goldman?«
»Sie dürfen
mich gerne Rick nennen. Bei ›Mr Goldman‹ komme ich mir älter vor, als ich es
ohnehin schon bin. Hät ten Sie etwas dagegen, wenn wir
uns kurz hinsetzen und reden würden?« In der Lobby standen zwei Ohrensessel mit
Brokatbezug, die genau den richtigen Abstand zueinander hatten, um sich in Ruhe
unterhalten zu können.
Ich zögerte.
Ich war längst nicht so ruhig und gelassen, wie ich tat. Ehrlich gesagt,
zitterte ich immer noch. Ich war völlig überrumpelt worden, und das nicht
gerade auf angenehme Art. »Eine Minute«, sagte ich vorsichtig und ließ mich
möglichst elegant in den Sessel sinken. Ich wollte nicht, dass Rick Goldman merkte,
wie zittrig ich war.
Er nahm
gegenüber von mir Platz, sein markantes Gesicht blieb bewusst ausdruckslos.
»Ich bin ein ehemaliger Student des Bingham-College«, sagte er.
Das sagte
mir wenig. »Da sind Sie nicht der Einzige, also was kann ich für Sie tun?«
»Ich war
jahrelang bei der Polizei von Memphis. Jetzt bin ich Privatdetektiv.«
»Aha.« Ich
wünschte, er hörte auf, um den heißen Brei herumzureden.
»Der
Verwaltungsrat ist im Moment sehr geteilter Meinung«, sagte Rick Goldman.
Hoffentlich kam er bald zur Sache. Ich hob die Brauen und nickte ermutigend.
»Es gibt
eine liberale Mehrheit und eine konservative Minderheit. Diese Minderheit macht
sich große Sorgen um das Image von Bingham. Als die
konservative Fraktion erfuhr, was für ein Seminar Clyde da
veranstaltet, bat sie mich, die Gastdozenten im Auge zu behalten.«
»Ihnen auf
den Zahn zu fühlen«, sagte ich.
»Sagen wir
mal, Augen und Ohren offen zu halten«, bestätigte er.
Ich hielt
Rick Goldman für einen seriösen Mann. »Und Clyde hat
bei Ihnen keinen Verdacht geschöpft?«
»Ich habe
ordnungsgemäß meine Studiengebühren bezahlt und mich für das Seminar
angemeldet«, sagte Rick Goldman.
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