Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
besagter Manfred.
»Ich hab
gesehen, wie sie Sie erschreckt hat«, sagte Manfred fröhlich. »Bitte
entschuldigen Sie. Sind Sie befreundet? Sie meinte, sie müsse hier ein paar
Freunde treffen.«
Erstaunlich.
Xyldas hellseherische Fähigkeiten hatten sie also direkt vor das Multiplex-Kino
geführt. Manfred war ein schlanker Mann von maximal Anfang zwanzig. Er hatte
ein schmales Gesicht und zurückgegeltes, wasserstoffblond gefärbtes Haar, ein
passendes Ziegenbärtchen und mindestens eine Tätowierung, die ich seitlich an
seinem Hals entdeckte. Sein Gesicht wurde von zahlreichen Piercings geschmückt,
und seine Finger waren heftig beringt.
Irgendwie
passte er zu Xylda.
»Ich bin
Tolliver Lang, und das' ist Harper Connelly«, sagte
Tolliver. »Sind Sie mit Xylda verwandt?«
»Das ist
mein Enkel, Manfred Bernardo«, sagte Xylda stolz.
Ich war mir
sicher, dass es nicht viele Großmütter gab, die Manfreds Gesichtsschmuck
ansehen konnten, ohne zusammenzuzucken. Und noch weniger, die ihn mit Stolz
betrachteten. An Manfred stach so manches hervor, vieles aber auch nicht - und
seine Großmutter besaß sicherlich genügend hellseherische Fähigkeiten, um das
zu erkennen.
Wir sagten
dem jungen Mann, dass wir uns freuten, ihn kennenzulernen, und erklärten ihm,
dass sich unsere und Xyldas Wege manchmal aus beruflichen Gründen kreuzten.
»Sie ist
heute plötzlich vom Frühstückstisch aufgesprungen«, sagte Manfred. »Sie meinte,
wir müssen nach Memphis. Also stiegen wir ins Auto, und hier wären wir!« Er
schien stolz darauf zu sein, seine Großmutter ernst genommen und pünktlich zu
ihrem »Rendezvous« gebracht zu haben.
»Du
wusstest, dass die Leiche gefunden würde«, sagte ich zu Xylda, die ihren Kaffee
bereits intus hatte, bevor wir überhaupt Zeit fanden, an unserem zu nippen.
»Ja, und ich
wusste, dass man sie auf einem Friedhof finden würde«, sagte Xylda. »Ich wusste
nur nicht, auf welchem. Ich bin froh, dass du das Mädchen gefunden hast. Sie
ist schon lange tot.«
»Seit dem
Tag ihres Verschwindens?«, fragte ich.
»Nein, nicht
ganz«, sagte Xylda. »Sie hat noch ein paar Stunden gelebt, aber mehr auch
nicht.«
Ich war sehr
erleichtert, das zu hören. »So etwas habe ich mir auch schon gedacht. Danke für
die Information.« Ich überlegte, ob ich damit zur Polizei oder zu Tabithas
Familie gehen sollte. Doch schon bald wurde mir klar, dass das keine gute Idee
wäre. Wenn sich die Polizei schon so schwer damit tat, mir zu glauben, würde
sie Xylda erst recht keinen Glauben schenken. Wenn irgendjemand aussieht wie
eine Ex-Nutte, die jetzt ihr Geld mit Hellsehen verdient, dann Xylda.
Polizisten vertrauen weder den einen noch den anderen, und Xylda verstärkt
dieses Misstrauen noch mit jedem Satz, den sie von sich gibt.
»Ich hab's
GESEHEN«, sagte Xylda. Ich konnte die Großbuchstaben in ihrer Stimme hören. Ihr
Enkel Manfred strahlte seine Großmutter voller Stolz an. Dass uns anfangs jeder
im Coffeeshop angestarrt hatte, schien ihn kein bisschen zu stören. Ich fand
das für so einen jungen Mann, der kaum älter war als ein Teenager, wirklich
außergewöhnlich. Mir fiel auf, dass Manfred und Victor Morgenstern altersmäßig
gar nicht so weit auseinanderlagen. Ich überlegte, ob sich die beiden wohl
verstehen würden, doch es fiel mir schwer, mir eine Unterhaltung zwischen ihnen
vorzustellen.
»Xylda, hast
du vielleicht auch einen Blick auf den Mörder erhaschen können?«, fragte
Tolliver. Er sprach sehr leise, beinahe unhörbar, denn die Umsitzenden hatten
ihre Ohren weit aufgesperrt.
»Es geschah
aus Liebe«, sagte Xylda. »Aus Liebe!« Sie sprach laut und deutlich.
Sie lächelte
uns an, musterte uns nacheinander aufmerksam und sagte dann zu Manfred, es sei
Zeit für ihren Mittagsschlaf.
»Klar, Oma«,
sagte er, stand auf und schob ihren Stuhl zurück. So etwas hatte ich seit
Ewigkeiten nicht gesehen. Als Xylda nach ihrer Handtasche griff und langsam zur
Tür schlurfte, während die anderen Gäste ihren riesigen karierten Mantel
bestaunten, deutete Manfred eine Verbeugung an und nahm meine Hand. »Hat mich
riesig gefreut, dich kennenzulernen, Harper«, sagte er
und klang plötzlich deutlich älter, als er aussah, während er ebenso plötzlich
zum Du überging. »Solltest du mal Gesellschaft brauchen, stehe ich dir gern zur
Verfügung.« Er zwinkerte mir zu.
Ein Blick in
seine Augen sagte mir, dass Manfred unabhängig von seinem tatsächlichen Alter
aus biologischer Sicht ein voll entwickelter
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