Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
seinen Freunden geredet. Die Freunde konnten sich erinnern, mit Victor
gesprochen zu haben, wussten aber nicht, wann genau das gewesen war. Danach, so
Victor, habe er an einer Tankstelle gehalten, um zu tanken und ein Gatorade zu
kaufen. Eine Aussage, die der Tankwart bestätigt hatte. Victor war gegen elf
nach Hause gekommen, als dort bereits Panik ausgebrochen war. Genauere
zeitliche Angaben gab es nicht. Falls Victor das alles geplant hatte, konnte er
seine Halbschwester entführt haben.
Glaubte man
einem seiner Freunde, war Victor nicht besonders begeistert von Tabitha
gewesen. Allerdings konnte sich dieser »Freund« an keine konkrete Bemerkung
Victors über Tabitha erinnern, sondern erzählte nur, dass Victor sie für ein
verzogenes Gör hielt.
Dass ein
Bruder so etwas über seine kleine Schwester sagt, ist eigentlich völlig normal,
und zwar unabhängig davon, ob sie nun seine Schwester oder seine Halbschwester
ist. Andererseits war Victor in einem problematischen Alter.
Gab es noch
weitere Verdächtige? Klar. Die Artikel, die wir lasen, hielten fest, dass Joel
Wirtschaftsprüfer für Huff Taichert Killough war, eine
Firma, die Konten von vielen Leuten aus der Musikindustrie verwaltete. Im Zuge
dessen gab es einige Mutmaßungen über dubiose Geldgeschäfte, zum Beispiel die,
dass Joel möglicherweise in irgendwelche krummen Deals verstrickt sei, mit
denen er sich Feinde gemacht hatte. Beweise für diese interessante Theorie
wurden allerdings nicht gefunden. Außerdem arbeitete Joel nach wie vor für
dieselbe Firma, nur in der Memphis- statt in der Nashville-Niederlassung.
Natürlich gingen die Zeitungen nicht weiter darauf ein, ob der Umzug mit einem
neuen Aufgabengebiet einherging oder nicht. Wäre man bei den Ermittlungen auf
irgendwelche Geldwäschestrategien gestoßen, hätte die Presse sicherlich Wind
davon bekommen.
Ich sah mir
die Bilder an, die zu den Artikeln gehörten: Victor, der mürrisch und verloren
aussah, und eine aufgelöste Diane. Joel mit einem völlig ausdruckslosen
Gesicht.
Dann war da
noch Felicia, die wütend und energisch wirkte und ihren Arm um Victor gelegt
hatte. Neben ihr stand Seth Koenig, der FBI-Agent, der heute Abend vor unserer
Zimmertür auf uns gewartet hatte. Hmm. Auf dem Foto sagte er etwas zu ihr. Das
Bild zeigte ihn mit einem ernsten Gesichtsausdruck und einer dunklen
Sonnenbrille. Darunter stand: »Felicia Hart, die Tante des vermissten Mädchens,
tröstet ihren Neffen Victor Morgenstern, während sie den Fall mit einem
FBI-Agenten diskutiert. Das FBI hat der hiesigen Polizei seine Dienste und sein
Labor zur Verfügung gestellt.«
»Schau mal«,
sagte Tolliver amüsiert. Das nächste Foto war eines von uns. Auch wir trugen
beide dunkle Sonnenbrillen, und ich hatte den Kopf abgewandt. Das mache ich
immer, wenn ich Kameras sehe. Es macht mir nichts aus, fotografiert zu werden,
aber das heißt nicht, dass ich es mag.
Ein Bruder von
Joel war ebenfalls zu sehen, er wirkte beinahe wie ein älterer Klon und hieß
David. Ich konnte mich nicht erinnern, ihm bei den Morgensterns begegnet zu
sein. Aber vielleicht war er längst wieder zu seinem Arbeitsplatz und seinem
Alltag zurückgekehrt, als man uns engagiert hatte. Das taten damals viele, denn
es sah nicht so aus, als ob der Fall so bald gelöst würde.
»Ich
fürchte, wir sind keinen Schritt weiter«, klagte ich.
»Nein,
wahrscheinlich nicht«, sagte Tolliver. »Und die Polizei haben wir auch nicht
angerufen.«
»Weil die
sofort herausfinden, dass wir die Anrufer sind«, sagte ich. »Aber sie werden
ihn auch so finden. Er wird bald vermisst werden.« Das mag gefühllos klingen,
und ich war auch nicht gerade stolz auf mich. Mir war durchaus klar, dass Clyde Nunley da draußen tot in der Kälte lag. Aber Tote
fühlen nichts. Sie warten nur.
Würde er am
nächsten Tag nicht geborgen, könnte ich ihn vielleicht ein zweites Mal
»finden«. Niemand wäre überrascht, wenn wir morgen noch mal auf den alten
Friedhof gehen würden, überlegte ich. Allein die Tatsache, dass wir so spät
abends dort gewesen waren, machte uns verdächtig. Besonders intelligent war das
wirklich nicht gewesen.
Aber was
geschehen war, war geschehen, und wenn unsere Anwesenheit entdeckt würde,
mussten wir eben die Konsequenzen tragen.
Als ich in
jener Nacht endlich zu Bett ging, grübelte ich noch mehr über den Tod Tabitha
Morgensterns nach als vor dem Fund ihrer Gebeine. Und die Anwesenheit des
Geistes an ihrem Grab zwang mich, sämtliche
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