Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
Ich
nahm mein Besteck (das in eine bunte Serviette eingerollt war) und setzte mich
an die Küchentheke, da ich fit genug war, einen der Barhocker zu erklimmen. Ich
saß vielleicht gerade mal zehn Sekunden dort, als mir Esther ein Glas Tee neben
den Teller stellte. Ihr breites Lächeln, bei dem sie alle Zähne zeigte, war so
angsteinflößend wie das eines Hais.
»Ungesüßt«,
sagte sie. »Einverstanden?« Ihre Stimme gab mir zu verstehen, dass ich besser
keine Sonderwünsche äußerte.
»Prima,
danke«, sagte ich, woraufhin sie weiter schwamm.
Zu meiner
Überraschung setzte sich Victor neben mich. Wahrscheinlich hatte er seiner
Großmutter inzwischen den Stock geholt. Sein Teller verschwand unter einer
erstaunlichen Kombination von Gerichten, die nur wenig Gemüse enthielten. Er
hatte eine Dose Cola dabei, die er provozierend laut aufknackte.
»Ihre Arbeit
ist schon ziemlich schräg, was?«, lautete sein Eröffnungssatz.
»Ja, das ist
sie.«
Vielleicht
wollte er mich beleidigen. Wenn ja, hatte ihm meine nüchterne Antwort wohl den
Spaß verdorben. Aber ich war froh, mich nicht verstellen zu müssen.
»Sie sind
also die ganze Zeit unterwegs?«
»Ja.«
»Cool.«
»Manchmal.
Aber manchmal wünsche ich mir auch so ein schönes Haus wie dieses hier.«
Er sah sich
verächtlich um, schließlich konnte er es sich leisten, so ein schönes,
gepflegtes Heim zu verachten, da es ihm nie daran gefehlt hatte. »Ja, das ist
schon in Ordnung. Aber kein Haus ist wirklich schön, wenn man darin nicht
glücklich ist.«
Eine
interessante und äußerst zutreffende Bemerkung - auch wenn ein wenig Komfort
niemals schaden kann, und zwar unabhängig davon, ob man nun deprimiert ist oder
gute Laune hat.
»Und du bist
nicht glücklich.«
»Nicht
besonders.«
Das war ein
ziemlich offenes Gespräch mit jemandem, den ich eigentlich gar nicht kannte.
»Wegen
Tabithas Tod?« Wo wir schon mal beim Thema waren...
»Ja, und
auch, weil hier sonst niemand glücklich ist.«
»Aber jetzt,
wo sie gefunden wurde und beerdigt werden kann - meinst du nicht, dass es
besser wird?«
Er
schüttelte zweifelnd den Kopf. Während wir diese doch eher bedrückende
Unterhaltung führten, aß er ununterbrochen. Aber wenigstens kaute er nicht mit
offenem Mund. Plötzlich wurde mir klar, dass ich diesem Jungen altersmäßig
näher war als allen anderen im Haus. Deshalb hatte er sich auch zu mir gesetzt.
»Vielleicht«,
sagte er widerwillig. »Aber erst kommt das Baby, und es wird die ganze Nacht
durchschreien. Bei Tabitha war das zumindest so«, fügte er kaum hörbar hinzu.
»Du hast sie
gern gehabt«, sagte ich.
»Ja, sie war
schon okay. Sie hat mich geärgert, aber sie war okay.«
»Die Polizei
hat dich ganz schön in die Mangel genommen, als sie entführt wurde.«
»Oh ja, das
war ziemlich heftig. Sie hat mich verhört, Dad musste
mir einen Anwalt zur Seite stellen.« Er war fast ein wenig stolz darauf. »Die
Polizei begriff einfach nicht, dass ich gar nicht gewusst hätte, wohin mit ihr.
Warum hätte ich sie überhaupt entführen sollen? Wir haben gestritten, aber
echte Geschwister streiten sich genauso. Sie streiten doch auch manchmal mit
Ihrem Bruder, oder etwa nicht?«
»Wir sind
zusammen aufgewachsen«, sagte ich, »aber er ist nicht wirklich mein Bruder.
Meine Mom hat seinen Dad geheiratet.«
Ich staunte selbst über meine Worte. Sie sprudelten einfach aus mir heraus.
»Das muss
echt komisch sein, mit jemandem zusammenzuleben, der genauso alt ist wie man
selbst, aber mit dem man nicht verwandt ist. Vor allem wenn man nicht dasselbe,
Sie wissen schon, Geschlecht hat.«
»Man muss
sich erst einmal daran gewöhnen«, gab ich zu. Es hatte allerdings nicht lange
gedauert, bis Cameron, Mark, Tolliver und ich uns gegen
unseren gemeinsamen Feind verbündet hatten. Ich holte tief Luft. »Unsere Eltern
waren drogensüchtig«, sagte ich. »Sie haben viel Kokain konsumiert. Gras.
Schmerzmittel. Codein. Alles, was sie kriegen konnten. Und wenn das nicht ging,
griffen sie zur Flasche. Hatten deine Eltern jemals solche Probleme?«
Ihm war im
wahrsten Sinne des Wortes die Kinnlade runtergefallen. So abgeklärt war er dann
doch wieder nicht, der gute Victor. »Meine Güte«, sagte er. »Das ist ja
schrecklich. Jugendliche nehmen Drogen, aber doch nicht ihre Eltern.«
Auch wenn
ich selten so etwas Naives gehört habe, traf es den Nagel doch ziemlich auf den
Kopf. Irgendwie war es auch rührend, dass er noch solche Illusionen hatte. Ich
wartete immer
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