Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
sich einen Moment.
»Nein, heute
nicht mehr. Ich fürchte, sie werden ihr Leben lang auf der Hut sein, und erst
recht, wenn das Baby da ist. Victor ist alt genug, um auf sich selbst
aufzupassen, wenigstens bis zu einem gewissen Ausmaß. Vic ist ein typischer
Teenager.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Typische Teenager waren
offensichtlich blöd. »Sie halten sich für unsterblich.«
»Wenn das
ein Teenager besser weiß, dann Victor.«
Felicia
wirkte verlegen. Trotzdem setzte sie die Unterhaltung ungerührt fort. »Es ist
schon komisch, rein körperlich besitzt Victor eine richtige Pferdenatur, genau
wie ich. Seine Mutter - also Whitney, meine Schwester - war schon immer sehr
kränklich. Whitney hatte alle möglichen Allergien, als wir noch klein waren.
Meine Eltern mussten die ganze Nacht an ihrem Bett sitzen, weil sie hustend
nach Luft rang.« Felicia machte ein grimmiges Gesicht. Ich fragte mich, was da
wohl noch an Zuneigung für sie selbst übrig geblieben war. »In der Unterstufe
bekam sie eine Lungenentzündung, Pfeiffersches Drüsenfieber und eine
Mandelentzündung. Und auf dem College hatte sie einen Blinddarmdurchbruch, kurz
nachdem sie mit Joel zusammenkam. Ich war noch nie im Krankenhaus.« Sie sah zu
ihrem früheren Schwager hinüber. »Sie hätten sehen müssen, wie sehr sich Joel
um sie gekümmert hat. Im Endstadium ihrer tödlichen Krankheit ließ er kaum noch
jemanden zu ihr. Er wollte sie ganz für sich alleine haben. Mein Vater war
ähnlich fürsorglich.« Sie sah quer durchs Zimmer zu Fred Hart hinüber, der sich
dazu durchgerungen hatte, mit Joel zu reden. Ich wusste nicht, um was es ging,
aber Joel wirkte höflich gelangweilt.
»Ich nehme
an, Victor war noch zu klein, um seine Mutter öfter im Krankenhaus zu
besuchen.«
»Ja, wir
wollten nicht, dass er Whitney so in Erinnerung behält. Ich wohnte damals bei
ihnen und habe mich um Victor gekümmert. Er war noch so klein und so was von
süß.«
»Er ist ein
gutaussehender junger Mann«, sagte ich höflich.
»Meiner
Schwester zuliebe behalte ich ihn noch immer im Auge. Es ist toll, dass sie
jetzt hier in Memphis leben. Manchmal wohnt Victor bei mir, wenn es zu Hause zu
anstrengend wird.«
Sie konnte
es kaum erwarten, dass ich fragte, warum es zu Hause zu anstrengend wurde.
Dabei sollten die Entführung und das Verschwinden des kleinen Mädchens doch
eigentlich Grund genug sein? »Er kann froh sein, dass er so eine gewissenhafte
Tante hat«, erwiderte ich möglichst unverbindlich.
»Ich habe
Ihren Bruder ein paarmal getroffen«, sagte Felicia plötzlich, als werfe sie
einen Stein ins Wasser, um zu sehen, was dann passiert.
»Er hat mir
davon erzählt«, sagte ich so neutral wie möglich.
Sie war
sprachlos, dass ich nicht nachhakte. Nach einer Pause sagte Felicia: »Ich
glaube, es hat ihn ganz schön mitgenommen, als ich wegen der Entfernung
beschloss, meinen eigenen Weg zu gehen.«
Dazu fiel
mir nichts ein, stattdessen wurde ich ziemlich wütend. Das war eine ganz andere
Geschichte als die, die mir Tolliver erzählt hatte. Sie musste also lügen.
»Es muss
schwer sein, in Ihrem Alter noch einen Partner zu finden«, sagte ich.
Sie zog die
Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
»Ich meine,
dann sind alle Männer verheiratet oder frisch geschieden. Und unter Umständen
haben sie sogar Kinder und andere Verpflichtungen.«
»Für mich
war das eigentlich nie ein Problem«, würgte sie zwischen zusammengebissenen
Zähnen hervor. »Aber für jemanden, der so viel unterwegs ist wie Sie, ist es
bestimmt schwierig, einen geeigneten Partner zu finden.«
Oh nein,
bitte nicht. Wenn sie glaubte, mich verletzen zu können, indem sie mir unter
die Nase rieb, dass ich ständig mit Tolliver zusammen bin, täuschte sie sich.
Warum unterhielt ich mich überhaupt mit dieser Frau? Tolliver war ein
erwachsener Mann, sollte er ihrem merkwürdigen Verhalten doch allein auf den
Grund gehen!
»Kennen Sie Clyde Nunley?«, fragte ich und sah irgendwo hin, nur nicht in
ihr Gesicht.
»Na ja, wir
waren zusammen auf dem Bingham-College.« Ich zuckte zusammen. Ich war mir
sicher gewesen, dass sie sagen würde, sie hätte ihn niemals kennengelernt. »Er
ist ein paar Jahre älter, aber wir kennen uns. Clyde und David sind sogar Bundesbrüder.«
Sie nickte
David zu, der sie fragend ansah. Als sie ihn anlächelte, kam er, wenn auch
widerwillig, zu uns herüber. David Morgenstern war nicht gerade mein größter
Fan, aber er begegnete mir diesmal etwas höflicher
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