Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
Schlurfen. »Ich gebe sie dir.«
»Ja?« Das
war eindeutig Gracie. Gracie hatte einen ziemlichen Hass auf uns.
»Gracie, wie
ich höre, singst du im Schulchor.«
»Ja, na
und?«
»Singst du Sopran
oder Alt?«
»Keine
Ahnung. Ich singe Melodien.«
»Okay,
wahrscheinlich Sopran. Hör mal, wir haben vor, zu Mariellas Spiel zu kommen.
Meinst du, du kommst auch mit und setzt dich neben uns, wenn es klappt?«
»Na ja,
vielleicht gehe ich mit meinen Freunden hin.«
Die sie
jeden Tag in der Schule sah und mit denen sie laut Iona den ganzen Abend
telefonierte.
»Ich weiß,
wie wichtig das ist«, sagte ich und machte wieder einen ganz auf Schweiz, »aber
wir sehen euch nicht sehr oft.«
»Okay, ich
denk drüber nach«, sagte sie wenig begeistert. »Blödes Basketball. Wenn sie auf
dem Spielfeld rumrennt, schlackern ihre Wangen. Sie sieht aus wie eine
Bulldogge.«
»Als
Schwester solltest du Mariella eigentlich unterstützen und anfeuern«, sagte ich
weniger neutral, als mir lieb war.
»Warum
sollte ich?«
Na gut, das
war wohl wirklich nicht sehr neutral gewesen. »Weil du verdammtes Glück hast,
überhaupt eine Schwester zu haben«, sagte ich. Ich merkte, dass ich immer
hitziger klang, und riss mich zusammen. »Und weil sich das einfach so gehört, Gracie. Hier ist dein Bruder.« Ich gab den Hörer an Tolliver
weiter.
»Gracie, ich will dich singen hören«, sagte Tolliver. Das war
genau das Richtige, und Gracie versprach herauszufinden,
wann der Chor zum ersten Mal auftreten würde, damit Tolliver und ich uns das
Datum im Kalender vormerken konnten. Dann schien Gracie das
Telefon weitergegeben zu haben.
»Iona«,
sagte Tolliver bemüht höflich. »Wie geht es dir? Ach, wirklich? Die Schule hat
wieder angerufen? Nun ja, du weißt ja, dass Gracie nicht
dumm ist, also muss es ein anderes Problem geben. Gut.
Wann geht sie zu dieser Untersuchung? Ein Glück, dass das der Staat bezahlt.
Aber weißt du, wir...« Er hörte noch eine Weile zu. »Gut, ruf uns an, sobald du
die Ergebnisse vorliegen hast. Du weißt, dass wir sie auch gern erfahren
würden.«
Nachdem ich
diesem unerquicklichen Gespräch noch eine Weile zugehört hatte, war ich froh,
als Tolliver endlich auflegte.
»Was ist
los?«, fragte ich.
»Eine ganze
Menge«, erwiderte er stirnrunzelnd. »Das war fast schon ein gutes Gespräch mit
Iona. Gracies Lehrerin meint, Gracie könnte an ADHS
leiden. Sie hat zu einer Untersuchung geraten, und Iona bringt sie diese Woche
hin. Der Staat zahlt natürlich für die Untersuchung.«
»Davon habe
ich noch nie gehört«, sagte ich verblüfft. »Das müssen wir im Internet
nachschauen.«
»Wenn es
stimmt, muss sie Medikamente nehmen, sagt Iona.«
»Gibt es
Nebenwirkungen?«
»Ein paar
schon, aber Iona hat sich eher auf die positiven Auswirkungen konzentriert.
Anscheinend ist Gracie ziemlich aggressiv in der Schule, und Iona will ihre
Ruhe.«
»Wer will
das nicht? Aber wenn die Nebenwirkungen...«
Wir
verbrachten den restlichen Abend im Internet, lasen Artikel über die
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung und über die Medikamente
dagegen. Wem das übertrieben oder merkwürdig vorkommt, darf nicht vergessen,
dass Tolliver, Cameron und ich die Mädchen großgezogen
haben. Meine Mutter hatte zwar halbwegs für sie gesorgt, als sie noch Säuglinge
waren. Aber wenn wir nicht gewesen wären, hätten Mariella und Gracie weder
gegessen, noch wären ihre Windeln gewechselt worden, noch hätten sie rechnen
oder lesen gelernt. Als Cameron entführt wurde, war
Mariella erst drei und Gracie fünf Jahre alt gewesen. Sie waren gemeinsam ein
paar Vormittage die Woche in eine Vorschule gegangen. Wir hatten sie dort
angemeldet und meiner Mutter weisgemacht, sie müssten dahin. Wir brachten sie
morgens in die Vorschule, bevor wir selbst zur Schule gingen, und unsere Mutter
musste nur noch daran denken, sie wieder abzuholen. Normalerweise tat sie das
auch, vorausgesetzt, wir legten ihr einen Zettel hin.
Hier saß ich
nun und hing meinen Erinnerungen nach, obwohl ich alles lieber wollte als das.
»So, jetzt
reicht's«, sagte Tolliver nach einer Weile, als wir das Gefühl hatten, ein
wenig mehr über diese Störung und die Medikamente dagegen zu wissen. »Sobald
wir erfahren haben, ob sie daran leidet oder nicht, werden wir uns genauer
informieren.«
Ich hatte
das Gefühl zu ertrinken. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, was beim
Lernprozess eines Kindes alles schiefgehen kann. Was war nur aus
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