Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
Dort
befanden sich so viele »frische« Tote, dass die Schwingungen ständig stärker
wurden. Als ich aus dem Wagen stieg, war mir bereits schwindelig. Während wir
einen Flur entlangliefen, summte mein ganzer Körper. Ich nahm meine Umgebung
kaum noch wahr und folgte der sehr übergewichtigen, sehr jungen Frau, die uns
den Weg zeigte. Ihr dicker Hintern wackelte vor mir hin und her, und ihr dünnes
dunkles Haar wippte von links nach rechts. Sie hatte sich nicht die Mühe
gemacht, sich zu schminken, und ihre Kleidung stammte aus Billigläden. So ein
Job muss einem jegliche Lebensfreude nehmen.
Die junge
Frau klopfte an eine Tür, die sich nicht von den anderen Türen unterschied. Sie
musste eine Antwort gehört haben, denn sie hielt uns die Tür auf, und wir
betraten den Raum. Ein aschblonder Mann in einem Laborkittel lehnte an der Wand
und begrüßte uns mit einem knappen »Hallo«. In dem Raum standen zwei fahrbare
Krankentragen. Die Leiche auf der einen schien wesentlich größer als die auf
der anderen. Tolliver würgte und hustete wegen des Geruchs. Trotz der schweren
Plastikabdeckung war der Leichengestank überwältigend.
»Tolliver,
du kannst gehen«, sagte ich zu ihm, obwohl ich wusste, dass er bleiben würde.
Ich stellte
mich und meinen Bruder vor.
»Dr. Lyle
Hatton«, sagte der Mann. Er war sehr groß und schlaksig und hatte die
Angewohnheit, einen über seine Brille hinweg verächtlich zu mustern. Doch
angesichts des überwältigenden Summens konnte ich seine Abneigung und
Verachtung leicht ignorieren.
Ich begann,
die Plastikplane hochzuheben, damit ich Tabithas Körper direkt berühren konnte,
aber Lyle Hutton befahl: »Handschuhe!«
Er nervte.
Ich hatte hier einen Job zu erledigen, und die Schwingungen hallten so laut in
dem Raum wider, dass ich kaum verstand, was er von mir wollte. Ich schien nur
die Wahl zu haben, den Körper entweder durch die Plastikplane oder mit
Plastikhandschuhen zu berühren. Ich hatte noch nie über die Barrieren zwischen
mir und einer Leiche nachgedacht, geschweige denn sie bewertet. Aber ich spürte
instinktiv, dass Baumwolle besser geeignet wäre als Plastik.
Doch diese
Möglichkeit hatte ich nicht. Also legte ich meine Hand auf die Plastikplane,
etwa dort, wo ihr Herz gewesen sein musste. Natürlich hatte der Körper unter
der Plane keine normalen Formen mehr, nicht nach anderthalb Jahren in der Erde.
Sofort erlebte ich Tabithas letzte Minuten: Ein kurzes Schläfchen, ich wache
auf. Ein blaues Kis sen, das auf mich zukommt.
Das Gefühl ... hintergangen worden zu sein, Ungläubigkeit, Entsetzen, NEIN,
NEIN, NEIN, NEIN, Mama hilf mir hilf mir hilf mir.
»Hilf mir«,
flüsterte ich. »Hilf mir.« Ich zog meine Hand zurück. Tolliver nahm mich in den
Arm. Tränen rannen über mein Gesicht.
Ich umarmte
Tolliver ebenfalls, eine gefährliche Schwäche, aber gerade jetzt brauchte ich
ihn so sehr. Ich sah den Mann mit Mundschutz und OP-Klamotten an. »Haben Sie
die Obduktion vorgenommen?«, fragte ich.
»Ich war
dabei«, sagte Dr. Hatton vorsichtig.
»Haben Sie
irgendwelche Fasern in Nase und Mund gefunden? Blaue Fasern.«
»Ja«, sagte
er nach einer langen Pause. »Die haben wir tatsächlich gefunden.«
»Sie wurde
erstickt«, sagte ich. »Aber sie hat sich bis zum Schluss gewehrt.«
Dr. Hatton
machte eine plötzliche Handbewegung, als wollte er mir etwas zeigen, hielt dann
aber abrupt inne.
»Wer oder
was sind Sie?«, fragte er, als spräche er mit einem interessanten Zwitterwesen.
»Eine ganz
normale Frau, die vom Blitz getroffen wurde«, sagte ich. »Ich bin nicht so
geboren worden.«
»Wenn man
vom Blitz getroffen wird, ist man entweder tot oder erholt sich wieder«, sagte
er ungeduldig.
»Daran sehe
ich, dass Sie noch nie mit jemandem zu tun hatten, der einen Blitzschlag überlebt
hat«, sagte ich. »Falls Sie eines Tages von mehreren Tausend Volt getroffen
werden, können wir uns gern einmal darüber unterhalten, wie sehr sich Ihr Leben
dadurch verändert hat.«
»Wer von so
vielen Volt direkt getroffen wird, ist tot«, sagte er trocken. »Was die Leute
spüren, ist die Energieentladung, wenn der Blitz ganz in ihrer Nähe
einschlägt.«
Ich konnte
es kaum fassen, dass dieser Typ mein Schicksal diskutieren wollte, während
Tabithas Leiche zwischen uns lag.
»Wie dem
auch sei«, sagte ich und richtete mich auf, um Tolliver anzudeuten, dass ich
weitermachen wollte. Es fiel mir schwer, ihn loszulassen, aber ich schaffte es,
und auch er löste sich aus der
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