Harper Connelly 04 - Grabeshauch
weil …?«
»Weil du dich bloß aufgeregt hättest«, sagte er. »Ich wüsste nicht, was dir das gebracht hätte. Immer, wenn ich dir von ihren
Anrufen erzählt habe, hast du dich total aufgeregt. Sie ruft nicht oft an, vielleicht zweimal im Jahr, und ich wollte dir
das einfach nicht mehr antun.«
Ich holte tief Luft. Am liebsten hätte ich mich auf ihn gestürzt. Es war schließlich meine Sache, wie ich auf mögliche Nachrichten
über meine Schwester reagierte. Es war mein gutes Recht, zu leiden.
Doch dann überdachte ich meine Haltung noch mal. Was hatte es mir denn jemals gebracht? War es mir in meiner Unwissenheit
nicht besser ergangen? War ich nicht gelassener und glücklicher gewesen, als ich darauf wartete, Cameron auf meine Art zu
finden? Oder war es vielleicht doch in Ordnung, andere aktiv werden zu lassen? Sich den Schmerz zu ersparen, auch wenn das
bedeutete, nicht über etwas Bescheid zu wissen, das man als ureigenste Angelegenheit betrachtete?
Vielleicht war die Sache doch komplizierter, als ich dachte.
Jetzt kannte ich wenigstens unser beider Haltung. Vielleicht hatte Tolliver doch recht. Es war auf jeden Fall in Ordnung,
dass er so gehandelt hatte.
Irgendwann nickte ich. Er wirkte erleichtert, denn seine Schultern entspannten sich, und er seufzte laut. Er setzte sich aufs
Bett, um seine Socken auszuziehen, dann warf er sie in die schmutzige Wäsche, wobei mir einfiel, dass uns das Waschpulver
ausging.
Während ich mich bettfertig machte, dachte ich an weitere Banalitäten. Ich las gern Romane von Charlie Huston und Duane Swirczynski.
Aber wenn ich das vor dem Schlafengehen tat, bekam ich eine Art Koffeinschub, und den konnte ich heute wirklich nicht gebrauchen.
Stattdessen schlug ich ein Rätselheft auf. Ich legte mich mit meiner weichen Schlafanzughose und meinem T-Shirt ins Bett, drehte mich auf den Bauch und vertiefte mich in mein Kreuzworträtsel. Tolliver war darin besser als ich, und ich
musste mich zusammenreißen, ihm keine Fragen zu stellen.
Ein weiterer aufregender Abend im Leben der Leichenleserin Harper Connelly
, dachte ich und war froh darüber.
4
Am nächsten Nachmittag, einem Sonntag, wollten wir mit Gracie und Mariella eislaufen gehen, aber nicht vor zwei Uhr. Samstagvormittags
mussten sie ihre Zimmer aufräumen und Haushaltspflichten erledigen, bevor sie ausgehen durften. Und am Sonntag ging die ganze
Familie in die Kirche und aß gemeinsam zu Mittag. So lauteten Ionas eiserne Regeln. Die zugegebenermaßen gar nicht mal so
schlecht waren. Ich hatte gejoggt und geduscht und wollte mich gerade anziehen, als Tollivers Handy klingelte. Er war faul
und lag noch im Bett, also ging ich dran.
»Hallo, du musst Harper sein.«
Ich erkannte die Stimme. »Ja, Victoria. Tolliver ist noch nicht aufgestanden. Wie geht’s dir so?«
Victorias Urgroßeltern waren Einwanderer gewesen, doch die in Texas geborene und aufgewachsene Victoria hatte keinerlei Akzent.
»Wie schön, dich zu hören«, sagte sie. »Über deine Schwester gibt es leider nichts Neues. Ich rufe wegen der Kunden an, die
ihr mir geschickt habt. Wegen der Joyces.«
»Sie haben sich schon gemeldet?«
»Die waren sogar schon bei mir im Büro, Schätzchen, und haben mir einen Scheck ausgestellt.«
»Ah, prima. Die Empfehlung hast du allerdings nicht mir zu verdanken. Tolliver hat ihnen deinen Namen und deine Telefonnummer
gegeben.«
»Das hat mir Lizzie auch erzählt. Diese Frau ist wirklich eine Texanerin wie aus dem Bilderbuch, was? Und ihre Schwester Kate?
Ich glaube, die interessiert sich für deinen Bruder.«
»Er ist nicht mein Bruder«, sagte ich automatisch, obwohl ich ihn meist so nannte. Ich atmete tief durch. »In Wahrheit sind
wir verlobt.«
Tolliver kam und warf mir einen warnenden Blick zu.
»Oh … na ja, das ist ja … toll. Ich gratuliere.« Victoria klang nicht sehr entzückt. War sie ebenfalls an Tolliver interessiert?
»Sagt mir Bescheid, wann und wo ihr heiratet, einverstanden?«, sagte Victoria dann, schon etwas fröhlicher.
»So weit im Voraus haben wir noch gar nicht geplant«, sagte ich etwas verwirrt und versuchte, mich wieder zu sammeln. »Willst
du kurz mit Tolliver sprechen? Er steht neben mir.« Tolliver schüttelte den Kopf, nahm mir das Telefon aber mit mürrischem
Gesicht ab, als Victoria ihn unbedingt sprechen wollte.
»Hallo, Victoria. Nein, ich war schon wach. Ja, wir sind ein Paar. Wir haben allerdings noch kein
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