Harper Connelly 04 - Grabeshauch
Minuten hinaus. Wir hatten Zeit. Ich versuchte mir vorzustellen, wie uns Victoria Flores auf einen Friedhof begleitete.
Am besten, wenn wir gerade keinen Auftrag hatten, wenn ich einen normalen Friedhofsbesuch … Gut, ich weiß, das klingt komisch. Aber wenn ich längere Zeit keinen Auftrag habe, gehe ich auf Friedhöfe, um in Form zu
bleiben und meine merkwürdige Gabe zu trainieren.
Victorias Gesellschaft würde sich komisch anfühlen, aber ich ging nicht davon aus, dass mich ihre Anwesenheit stören würde.
»Sie kennt sich mit Computern aus, nehme ich an. Das muss man wohl heutzutage, wenn man als Detektiv arbeitet«, sagte ich.
»Redest du immer noch von Victoria? Ich denke schon«, sagte Tolliver. »Sie hat einen Techniker erwähnt, der stundenweise für
sie arbeitet.«
Ich lag da und dachte nach, während Tolliver aufstand, duschte und sich anzog.
Plötzlich fand ich Victoria Flores deutlich interessanter. Ich fragte mich, ob sie das vermisste Baby finden würde. Das Baby,
von dem wir nicht einmal wussten, ob es überhaupt existierte. Ob Mariah Parish nun ein lebendes Kind zur Welt gebracht hatte
oder nicht, sollte mich eigentlich kaltlassen. Aber ich ertappte mich dabei, dass ich den Joyces wünschte, es zu finden. Ich
hatte so den Verdacht, dass es nicht von ihrem Großvater war. Andererseits: Wenn die beiden Enkelinnen so schnell zu dem Schluss
gekommen waren, dass Richard Joyce ein Kind mit seiner Pflegerin gehabt hatte, wardas Baby vielleicht doch von ihm. Aber Lizzie und Katie hatten nicht in dieselbe Richtung geschaut wie ich, nachdem ich ihnen
Mariah Parishs Todesursache genannt hatte. Ich hatte ihren Bruder und Lizzies Freund angesehen, die beide verdammt beunruhigt
gewirkt hatten. Warum, wusste ich auch nicht und würde es wahrscheinlich niemals erfahren. Aber Victoria hoffentlich schon.
Vielleicht hatten beide Sex mit Richards Pflegerin gehabt. Vielleicht hatte sie einer von beiden geschwängert. Oder aber sie
hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie geholfen hatten, das Baby zu verscharren oder zur Adoption freizugeben.
Egal, was der Bruder – Drexell hieß er, glaube ich – getan hatte: Es ging mich nichts an. Dasselbe galt für die Suche nach dem Parish-Baby, so
etwas lag schließlich nicht in meinem Kompetenzbereich. Außer, das Baby war tot. Ich überlegte, Victoria vorzuschlagen, nach
einem toten Kind Ausschau zu halten. Aber Kleinkinder sind am schwierigsten. Sie haben so leise Stimmchen. Wenn sie mit ihren
Eltern begraben sind, hört man sie besser.
Ich verscheuchte den Gedanken an das Kind, das höchstwahrscheinlich tot war, um die lebenden Kinder abzuholen, mit denen
wir
verwandt waren. Beide Mädchen rannten uns entgegen, als wir in der Auffahrt der Gorhams hielten. Sie wirkten glücklich, schienen
sich auf den Nachmittag zu freuen.
»Ich habe eine Eins im Diktat bekommen«, sagte Gracie. Tolliver lobte sie, und ich lächelte. Aber als ich mich zu ihr umdrehte,
sah ich Mariella neben ihr auf dem Rücksitz. Sie schwieg und wirkte ein wenig bedrückt.
»Was ist, Mariella?«, fragte ich.
»Nichts«, sagte sie, was eindeutig gelogen war.
Gracie sagte: »Mariella muss nachsitzen und hat eine Strafarbeit bekommen.«
»Warum denn, Mariella?«, fragte ich sachlich.
»Der Direktor hat mir vorgeworfen, die Klasse aufgewiegelt zu haben.« Mariella wich meinen Blicken aus.
»Und, stimmt das?«
»Es war diese Lindsay.«
»Lindsay tyrannisiert alle«, sagte Gracie. »Dabei müssen wir uns von niemandem tyrannisieren lassen, stimmt’s? So etwas tut
man nicht.« Gracie wirkte selbstbewusst, aber auch selbstgerecht.
Ich wollte, dass sie einen Moment schwieg. »Wir reden später darüber«, sagte ich, woraufhin sich Mariella etwas zu entspannen
schien. Ich war solche Probleme nicht gewohnt. Ich war Kinder nicht gewohnt. Aber ich erinnerte mich, dass so etwas in Mariellas
Alter ein Riesendrama gewesen war.
Als wir die Eisbahn erreichten, sah mich Tolliver fragend an, und ich wies mit dem Kinn auf Gracie. »Komm schon, Gracie, lass
uns die Schlittschuhe holen«, sagte er, woraufhin sie fröhlich aus dem Auto hüpfte, seine Hand nahm und mit ihm auf die Anlage
zuging.
Mariella stieg ebenfalls aus, und wir folgten ihnen langsam.
»Erzähl mir davon«, schlug ich vor.
Wie erwartet, war es keine große Sache: Lindsay hatte eine gehässige Bemerkung gegenüber Mariella gemacht. Dass sie bloß adoptiert
wäre und ihr Vater im Gefängnis
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