Harper Connelly 04 - Grabeshauch
Jahren nie angerufen oder mir geschrieben hatte.
Zunächst hatte ich angenommen, dass meine Schwester von einer Gang entführt und als Sklavin weiterverkauft worden sei. Ich
hatte mir etwas Gewalttätiges, Furchtbares vorgestellt. Später überlegte ich, ob sie ihr Leben nicht vielleicht einfach nur
satt gehabt hatte: die heruntergekommenen Eltern, den billigen Wohnwagen, die hinkende, geistesabwesende Schwester und die
zwei Jüngsten, die sich ständig schmutzig machten.
Die meiste Zeit ging ich jedoch davon aus, dass Cameron tot war.
Das plötzliche Auftauchen eines der Detectives vom Vortag riss mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Er kam ganz leise ins
Zimmer und sah auf meinen Bruder hinab. Dann fragte er: »Wie geht es Ihnen heute, Miss Connelly?«Mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein Lufthauch, so gedämpft klang sie.
Ich stand auf, weil er mich mit seinem lautlosen Auftauchen und seiner gedämpften Stimme nervös machte. Er war nicht besonders
groß, vielleicht knapp 1,80. Er war untersetzt und hatte einen dicken graumelierten Schnurrbart. Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Partner
Parker Powers. Dieser Detective sah aus wie Millionen anderer Männer auch. Ich versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern.
Rudy irgendwas. Rudy Flemmons.
»Im Vergleich zu meinem Bruder geht es mir bestens«, sagte ich und wies mit dem Kinn auf die Gestalt im Bett. »Haben Sie schon
einen Verdacht, wer ihm das angetan haben könnte?«
»Wir fanden ein paar Zigarettenstummel auf dem Parkplatz, aber die können von jedem stammen. Wir haben sie trotzdem eingesammelt,
falls wir jemanden finden, von dem wir eine DN A-Probe nehmen können. Vorausgesetzt, die im Labor können irgendeine DNA sichern.« Wir starrten weiterhin den Patienten an. Tolliver
öffnete die Augen, lächelte mich schwach an und schlief wieder ein.
»Glauben Sie, dass absichtlich auf ihn geschossen wurde?«, fragte der Detective.
»Er wurde getroffen«, sagte ich ein wenig verwirrt über die Frage.
Natürlich
hatte der Schütze auf Tolliver gezielt.
»Können Sie sich vorstellen, dass auf
Sie
geschossen wurde?«, fragte Rudy Flemmons.
»Warum denn das?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, merkte ich auch schon, wie dämlich das klang. »Ich meine, wer sollte auf
mich schießen? Wollen Sie damit sagen, dass die Kugel Tolliver bloß aus Versehen getroffen hat und dass sie eigentlich für
mich bestimmt war?«
»Sie hätte für Sie bestimmt sein
können
«, sagte Flemmons. »Ich habe nicht behauptet, dass es so
war
.«
»Und wie kommen Sie darauf?«
»Sie spielen bei Ihnen beiden die Hauptrolle«, sagte Flemmons. »Ihr Bruder unterstützt Sie nur. Sie sind diejenige mit der
besonderen Gabe. Insofern ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass jemand Probleme mit Ihnen hat und nicht mit Mr Lang. Soweit
ich weiß, hat er eine Freundin?«
Das war der merkwürdigste Polizist, dem ich je begegnet war.
Ich seufzte. Schon wieder. »Ja, das stimmt«, sagte ich.
»Wer ist sie?« Er hatte schon sein Notizbuch gezückt.
»Ich.«
Flemmons sah mich fragend an: »Wie bitte?«
»Wie Sie wissen, sind wir nicht blutsverwandt.« Ich war es leid, unsere Beziehung rechtfertigen zu müssen.
»Stimmt, Sie haben nicht dieselben Eltern«, sagte er. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht.
»Nein. Wir sind Partner, in jeglicher Hinsicht.«
»Verstehe. Ich bekam heute Morgen einen interessanten Anruf«, sagte Flemmons und ließ das Thema fallen. Sofort spitzte ich
die Ohren.
»Ja? Von wem denn?«
»Von einem Detective aus Texarkana. Er heißt Peter Gresham und ist ein Freund von mir.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragte ich seufzend. Ich hatte keine Lust, schon wieder über das Verschwinden meiner Schwester
zu sprechen. Heute war der reinste Cameron-Trauertag.
»Er meinte, es habe jemand wegen Ihrer Schwester angerufen.«
»Was war das für ein Anruf?« Es gibt mehr Verrückte als man denkt …
»Jemand hat sie im Einkaufszentrum von Texarkana gesehen.«
Mir verschlug es kurz den Atem, und ich japste nach Luft. »Cameron? Wer hat sie gesehen? Jemand, der sie von früher kennt?«
»Es war ein anonymer Anruf. Ein Mann rief von einem öffentlichen Telefon an.«
»Oh«, sagte ich und fühlte mich, als hätte mir soeben jemand einen Magenschwinger versetzt. »Aber … wie kann ich herausfinden, ob das stimmt? Wie kann ich dafür sorgen, dass sich diese Person meldet? Gibt es da irgendeine
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