Harper Connelly 04 - Grabeshauch
du
weg warst«, sagte er.
»Oh je, bist du überhaupt ans Telefon gekommen?«
»Das war meine große Herausforderung für heute.«
»Was wollte er?«
»Oh, mir sagen, dass ich meinen Dad verletzt habe. Und dass er es blöd von mir findet, dass ich Dad nicht mit ausgebreiteten
Armen im Land der Nüchternen empfange.«
Ich kämpfte kurz mit mir und rang mich dann dazu durch, zu sagen, was ich dachte. »Mark hat eine echte Schwäche für deinen
Dad, Tolliver. Du weißt, dass ich Mark sehr mag, er ist wirklich ein toller Kerl. Aber das mit Matthew wird er nie begreifen.«
»Ja«, sagte Tolliver. »Da hast du recht. Er hing wahnsinnigan Mom, und als sie starb, hat er diese Gefühle auf unseren Dad übertragen.«
Tolliver sprach nur selten über seine Mutter. Ihr Krebstod musste eine schreckliche Erfahrung für ihn gewesen sein.
»Meiner Meinung nach glaubt Mark, dass Dad im Grunde seines Herzens ein guter Kerl ist«, sagte Tolliver langsam. »Denn sonst
hätte er den einzigen Elternteil verloren, den er noch hat. Aber den braucht er.«
»Glaubst du, dass dein Dad im Grunde seines Herzens ein guter Kerl ist?«
Tolliver dachte lange nach, bevor er antwortete. »Ich hoffe, dass er sich einen guten Kern bewahrt hat«, sagte er. »Aber ehrlich
gesagt glaube ich nicht, dass er clean bleiben wird, falls er überhaupt clean ist. Er hat uns diesbezüglich schon so oft belogen.
Letztendlich kehrt er immer wieder zu den Drogen zurück. Und wenn es ganz schlimm wird, nimmt er alles, was er kriegen kann.
Er muss sehr gelitten haben, dass er so viele Drogen brauchte, um dieses Leid abzutöten. Andererseits hat er uns jedem überlassen,
der uns ausnutzen wollte, nur um Drogen nehmen zu können. Nein, ich kann ihm nicht vertrauen«, sagte Tolliver. »Ich hoffe
nur, dass ich es niemals tue, denn dann werde ich bloß wieder enttäuscht.«
»Genauso ging es mir mit meiner Mutter«, sagte ich verständnisvoll.
»Ja, Laurel war wirklich krass«, sagte Tolliver. »Weißt du, dass sie versucht hat, Mark und mich anzumachen?«
Mir wurde ganz schlecht. »Nein«, sagte ich heiser.
»Ja, so war es. Cameron wusste davon. Sie kam im … äh … entscheidenden Moment ins Zimmer. Mark wäre vor lauter Scham am liebsten im Erdboden versunken, und ich wusste nicht, wie
ich mich verhalten sollte.«
»Was ist passiert?« Ich empfand eine tiefe, brennende Scham. Ich redete mir ein, nichts damit zu tun zu haben,aber das ist nicht so einfach, wenn man eine Geschichte über seine engsten Verwandten hört, bei der man sich am liebsten übergeben
würde.
»Na ja, Cameron hat ihre Mutter ins Schlafzimmer geschleift und sie gezwungen, sich etwas anzuziehen«, sagte Tolliver. »Ich
glaube nicht, dass Laurel wusste, wo sie war und wen sie da anmachte, Harper, falls dir das etwas hilft. Cameron hat deine
Mom mehrmals geohrfeigt.«
»Meine Güte!«, sagte ich. Manchmal fehlen einem einfach die Worte.
»Wir haben es hinter uns«, sagte Tolliver, wie um sich selbst zu überzeugen.
»Ja«, sagte ich. »Und wir haben uns.«
»Das kann uns nichts mehr anhaben.«
»Nein«, sagte ich. Aber das war gelogen.
9
Das Steakhouse, in dem ich mich mit Victoria Flores traf, war ziemlich voll. Kellner eilten hin und her. Nach der gedämpften
Geräuschkulisse im Krankenhaus empfand ich die Atmosphäre als unheimlich lebhaft.
Zu meiner Überraschung kam Victoria nicht allein. Drexell Joyce, der Bruder von Lizzie und Kate, saß bei ihr am Tisch.
»Hallo, Süße!«, sagte Victoria, stand auf und umarmte mich. Ich war überrascht, aber nicht so sehr, dass ich vor ihr zurückgewichen
wäre. Ich wusste gar nicht, dass wir uns so nahestanden. Bestimmt zog sie diese Show bloß für Drexell Joyce ab. Ich hatte
mich auf ein gemütliches Abendessen unter Frauen gefreut, die das Aufklären von Geheimnissen zu ihrem Beruf gemacht haben.
Und nicht auf irgendwelche Spielchen mit einem Unbekannten.
»Mr Joyce«, sagte ich, während ich mich setzte und meine Handtasche unter dem Tisch verstaute.
»Oh, bitte nennen Sie mich Drex«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen. Er musterte mich mit übertriebener Bewunderung,
die ich ihm kein bisschen abnahm.
»Wieso sind Sie nicht auf der Ranch?«, fragte ich mit einem hoffentlich entwaffnenden Lächeln.
»Meine Schwestern haben mich gebeten, Victoria zu treffen, um zu hören, wie weit sie mit ihren Ermittlungen gekommen ist.
Wenn wir eine kleine Tante oder einen kleinen Onkelhaben,
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