Harper Connelly 04 - Grabeshauch
Normalbürger und die Bösen stellen.«
Mir fiel auf, dass der Detective nicht »die Guten« gesagt hatte. Wenn ich schon so lange bei der Polizei wäre wie Flemmons,
würde ich wahrscheinlich auch niemanden mehr als gut bezeichnen.
Am Ende des Labyrinths lag eine Art Besprechungsraum mit einem langen Tisch, um den ramponierte Stühle standen. An einem Ende
war die Videoausrüstung aufgebaut worden. Nachdem ich mich gesetzt hatte, machte Flemmons das Licht aus und drückte auf einen
Knopf.
Ich war so angespannt, dass der ganze Raum summte. Ich starrte auf den Bildschirm, aus Angst, etwas zu verpassen.
Gleich darauf sah ich eine Frau, die Ende zwanzig oder Anfang dreißig zu sein schien und über einen Parkplatz lief. Ihr Gesicht
war nicht deutlich zu erkennen. Es war teilweise abgewandt. Sie hatte lange blonde Haare, war klein und gedrungen. Ich schlug
die Hände vor den Mund, um keinen Laut zu geben, bis ich wusste, was ich sagen wollte.
Die Szene wechselte abrupt und zeigte dieselbe Frau beim Betreten des Einkaufszentrums. Sie trug eine Einkaufstüte von Buckle.
Diese Aufnahme war frontal gemacht worden. Obwohl der Film grobkörnig und sie nur kurz zu sehen war, schloss ich die Augen
und spürte, wie mir mein Magen in die Kniekehle rutschte.
»Das ist sie nicht«, sagte ich. »Das ist nicht meine Schwester.« Ich glaubte, weinen zu müssen – meine Augen brannten –, aber ich weinte nicht. Aber meine Anspannung und die anschließende Enttäuschung (oder Erleichterung) waren enorm.
»Sind Sie sicher?«
»Nicht ganz.« Ich zuckte die Achseln. »Wie auch, wenn ich ihr nicht direkt ins Gesicht sehen kann? Seit ich meineSchwester zum letzten Mal gesehen habe, sind mehr als acht Jahre vergangen. Aber ich kann sagen, dass das Gesicht dieser Frau
runder ist. Und ihr Gang ist auch nicht der von Cameron.«
»Lassen Sie uns das Band noch mal ansehen, um ganz sicher zu sein«, sagte Flemmons sachlich. Ich richtete mich auf und sah
es mir erneut an. Diesmal konnte ich besser auf Kleinigkeiten achten.
Die Frau von den Parkplatzaufnahmen trug eine riesige Handtasche. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Schwester sich
je so etwas aussuchen würde. Natürlich ändert man seinen Geschmack, wenn man älter wird, aber dass sich Camerons Taschengeschmack
dermaßen anders entwickelt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen. Die Einkäuferin trug hochhackige Schuhe zur Hose, und Cameron
hielt nichts von hohen Absätzen im Alltag. Dennoch konnte sie natürlich ihren Schuhgeschmack ebenso wie den Handtaschengeschmack
geändert haben. Ich trug auch nicht mehr dieselben Accessoires wie damals auf der Highschool. Aber die Gesichtsform der Frau
und die Art, wie sie sich in dem Film bewegte, nämlich mit leicht eingefallenen Schultern – nein, diese Frau konnte unmöglich
Cameron sein.
»Sie ist es auf gar keinen Fall«, sagte ich nach dem zweiten Anschauen. Ich war jetzt viel ruhiger. Der Schock war vorbei,
und ich begriff, dass wieder eine Hoffnung enttäuscht worden war.
Rudy Flemmons senkte kurz den Blick, und ich fragte mich, was er wohl vor mir verbarg. »Na gut«, sagte er leise. »Na gut.
Ich werde Pete Gresham Bescheid geben. Ich soll Sie übrigens von ihm grüßen.«
Ich nickte. Jetzt, wo ich das Band angeschaut hatte und wusste, dass diese Frau nicht meine Schwester war, platzte ich schier
vor Neugier, wer der Anrufer gewesen war.
Ich versuchte, ein paar Fragen zu stellen, aber Detective Flemmons hielt sich bedeckt. »Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich
mehr weiß«, sagte er, was mich natürlich enttäuschte.
Ich spannte wieder meinen Schirm auf und eilte zum Wagen. Während ich den Schirm ausschüttelte und hinterm Lenkrad Platz nahm,
spürte ich, wie das Handy in meiner Tasche vibrierte. Ich warf den Schirm auf die Rückbank, knallte die Tür zu und klappte
das Handy auf.
»Mariah Parish hatte tatsächlich ein Kind«, sagte Victoria Flores.
»Darfst du mir das überhaupt sagen?«
»Ich habe bereits mit Lizzie Joyce gesprochen. Ich suche jetzt nach dem Kind. Nach Lizzies Auftrag habe ich Stunden am Computer
verbracht und Erkundigungen eingeholt. Die ganze Sache ist äußerst merkwürdig, das kann ich dir sagen. Da sie erlaubt hat,
dass du mit mir redest, gehe ich davon aus, dass ich auch mit dir reden darf.« Victoria, die immer so verschlossen und nüchtern
wirkte, sprudelte förmlich über vor Mitteilungsdrang.
»Das ist zwar nicht unbedingt gesagt,
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