Harper Connelly 04 - Grabeshauch
den letzten beiden Tagen Ihre Freundin Victoria Flores gesehen?«
»Ja«, sagte Tolliver wie aus der Pistole geschossen. »Sie hat mich gestern Abend im Krankenhaus besucht. Harper war schon
gegangen. Victoria ist nach etwa einer Dreiviertelstunde aufgebrochen. Das muss so um … hm, keine Ahnung, ich habe ziemlich viele Schmerzmittel genommen. So gegen acht Uhr, nehme ich an. Seitdem habe ich sie
nicht mehr gesehen.«
»Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Sie hat ihre Tochter Mari-Carmen bei ihrer Mutter gelassen, und als Victoria
nicht kam, um ihr Kind abzuholen, hat diese die Polizei benachrichtigt. Normalerweise unternimmt die Polizei in solchen Fällen
nicht sofort etwas. Aber Victoria war früher bei der Polizei von Texarkana, und einige von uns kennen sie. Sie hat ihr Kind
noch nie zu spät abgeholt, jedenfalls nicht, ohne vorher anzurufen und Bescheid zu geben. Victoria ist eine gute Mutter.«
Ich sah ihm an, dass er zu den Garland-Cops gehörte, die sie gut kannten. Vielleicht sogar
sehr
gut. »Haben Sie mit jemandem gesprochen, der sie nach meinem Bruder gesehen hat?«
»Nein«, sagte er ernst und niedergeschlagen. »Leider nicht.«
Zumindest nahm niemand an, dass Tolliver aus seinem Krankenhausbett gesprungen war, Victoria überwältigt und sie unter dem
Bett versteckt hatte, bis er den Pförtner bestechen konnte, ihre Leiche zu entsorgen.
»Ihre Mutter hat nichts von ihr gehört?«
Der Detective schüttelte den Kopf.
»Das ist ja furchtbar«, sagte ich. »Ich … das ist ja furchtbar.«
Mir fiel ein, dass Tolliver mir vorhin etwas über Victoria hatte erzählen wollen. Ich saß neben ihm auf dem Sofa und wandte
den Kopf, um seinen Blick zu erhaschen. Ich hob fragend die Brauen. Würde er das Thema anschneiden?
Er schüttelte unmerklich den Kopf. Nein.
Na gut.
»Worüber haben Sie sich unterhalten? Hat Victoria irgendetwas erzählt? Woran sie arbeitet oder wohin sie nach dem Krankenhausbesuch
wollte?«
»Ich fürchte, wir haben überwiegend von mir gesprochen«, gestand Tolliver. »Sie hat mir Fragen zu der Kugel gestellt und wollte
wissen, ob der Ort, von dem aus der Schütze geschossen hat, bereits ermittelt wurde. Ob es in jener Nacht noch andere Schießereien
gegeben hätte. Sie haben Harper erzählt, dass es noch eine ganz in der Nähe des Motels gegeben hat, stimmt’s? Dann hat sie
mich noch gefragt, wie lange ich noch im Krankenhaus bleiben muss. Solche Sachen.«
»Hat sie irgendetwas von sich erzählt?«
»Ja. Sie meinte, sie sei eine Zeitlang mit einem Mann zusammengewesen. Mit einem von der Polizei. Sie hätten sich jedoch kürzlich getrennt. Sie meinte, sie hätte es sich anders überlegt
und wollte ihn noch gestern Abend anrufen.«
Ich hatte nicht mit so einer drastischen Reaktion gerechnet. Detective Flemmons wurde leichenblass. Ich hatte schon Angst,
er würde in Ohnmacht fallen. »Das hat sie gesagt?«, würgte er hervor.
»Ja«, sagte Tolliver genauso überrascht wie ich. »Mehr oder weniger wortwörtlich. Ich war erstaunt, da wir uns früher nie
über ihr Liebesleben unterhalten haben. So nahe standen wir uns nicht, und sie sprach nicht gern über ihr Privatleben. Wissen
Sie, mit welchem Cop sie zusammen war?«
»Ja«, antwortete Flemmons. »Mit mir.«
Darauf wusste niemand von uns etwas zu sagen.
Flemmons blieb mindestens noch eine Viertelstunde und stellte Tolliver bestimmt weitere zwanzig Fragen. Er wollte genau wissen,
was er und Victoria besprochen hatten, aber Tolliver wich ihm immer wieder geschickt aus. Ich staunte und war etwas beunruhigt,
dass Tolliver sich so bedeckt hielt.
Ich erzählte Rudy von der geheimnisvollen Person, die am Vorabend vor meiner Tür gestanden und geklopft hatte, bevor der Zimmerservice
gekommen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Victoria Flores gewesen war, aber ich wollte, dass jemand über diesen
kleinen Vorfall Bescheid wusste.
Schließlich wandte sich Detective Flemmons zum Gehen. Ich war unheimlich erleichtert, als er die Tür hinter sich geschlossen
hatte. Ich wartete, bis ich ihn zum Lift gehen hörte. Ich lauschte auf das Pling!, als der Lift kam, und auf das leise Rumpeln
der auf- und zugehenden Lifttüren. Ich öffnete sogar die Zimmertür und sah mich suchend um, um sicherzustellen, dass niemand
mehr da war.
So langsam litt ich unter Verfolgungswahn, aber aus gutem Grund.
»Los, raus mit der Sprache!«, sagte ich. Obwohl Tolliver sehr müde aussah
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