Harper Connelly 04 - Grabeshauch
angeschossen worden. Nicht wirklich. Mich hat der Schuss damals nur gestreift. Hat es sich wirklich so angefühlt
wie ein Fausthieb? So wird das in Büchern häufig beschrieben.«
»Wenn dich eine Riesenfaust völlig durchdringt, dich bluten lässt und die schlimmsten Schmerzen verursacht, die du jemals
hattest, dann ja«, sagte er. »Es tat so weh, dass ich einen Moment lang am liebsten gestorben wäre.«
»Puh«, sagte ich und versuchte, mir so einen intensiven Schmerz vorzustellen. Ich hatte Schmerzen gehabt, schlimme Schmerzen,
aber als mich der Blitz traf, hatte ich erst mal mehrere Sekunden gar nichts gespürt. Nur, dass ich in einer anderen Welt
war, bevor ich wieder in diese hier zurückkehrte. Danach hatte mir alles höllisch wehgetan. Meine Mutter hatte mir erzählt,
dass man bei einer Geburt furchtbare Schmerzen hat, aber diese Erfahrung hatte ich bisher noch nicht gemacht.
»Ich hoffe, das passiert nie wieder«, sagte ich. »Keinem von uns.«
»Hast du irgendwas gehört?«, fragte er.
Was für eine merkwürdige Formulierung. »Von wem, meinst du?«
»Victoria hat mich gestern Abend im Krankenhaus besucht«, sagte er.
Ich schwieg einen Moment. »Habe ich Grund zur Eifersucht?«, fragte ich, als es mir gelang, einigermaßen gelassen zu klingen.
»Nicht mehr als ich wegen Manfred.«
Oh je. »Dann solltest du mir lieber davon erzählen.«
In diesem Moment hielten wir vor dem Hotel, sodass wir unser Gespräch vertagen mussten. Ich lief um den Wagen herum und hielt
Tolliver die Tür auf. Er streckte die Füße aus dem Wagen, und ich stützte ihn beim Aussteigen ein wenig unter seinem gesunden
Arm. Er verzog das Gesicht, woran ich merkte, dass er Schmerzen hatte. Ich verriegelte den Wagen und wir gingen langsam zum
Hotel. Ich war erschüttert, wie wackelig Tolliver auf den Beinen war.
Wir schafften es durch die Lobby und in den Lift. Ich ließ Tolliver nicht aus den Augen, falls er Hilfe brauchte, und versuchte
gleichzeitig, nach nahendem Unheil Ausschau zu halten. Ich kam mir vor wie eine Geisteskranke, so wild irrte mein Blick hin
und her, um sich anschließend auf meinen Patienten zu heften.
Als wir endlich in unserem Zimmer waren, seufzte ich erleichtert und half Tolliver, sich hinzulegen. Ich zog einen Stuhl ans
Bett, was mich allerdings zu sehr ans Krankenhaus erinnerte. Also legte ich mich neben ihn und drehte mich auf die Seite,
damit ich ihn ansehen konnte.
Er brauchte eine Minute, um sich in eine bequeme Position zu bringen. Dann drehte er den Kopf, sodass sich unsere Blicke trafen.
»Das fühlt sich schon deutlich besser an«, sagte er. »Ge radezu paradiesisch.«
Ich pflichtete ihm bei. Um seine Entlassung aus dem Krankenhaus zu feiern, öffnete ich den Reißverschluss seiner Hose und
ließ ihm eine Therapie angedeihen, mit der er nicht gerechnet hatte. Eine, die ihm so gut tat, dass er sofort einschlief,
nachdem er mich geküsst hatte. Ich tat es ihm nach.
Wir wurden wach, weil es an unserer Tür klopfte. Ich ertappte mich bei dem Wunsch nach einer Tür, an die niemand klopfen konnte.
Ich hätte das Schild »Bitte nicht stören« hinaushängen sollen. Tolliver bewegte sich und öffnete die Augen. Ich rollte aus
dem Bett, reckte mich und fuhr mir mit einer Hand durchs Haar. Dann verließ ich das Schlafzimmer und durchquerte den Wohnbereich,
um nachzusehen, wer da war. Diesmal nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und schaute durch das Guckloch.
Zu meinem Erstaunen stand Rudy Flemmons vor der Tür, obwohl ich die Polizei nicht über unseren neuen Aufenthaltsort informiert
hatte.
»Es ist der Detective«, sagte ich. Ich stand in der Tür des Schlafzimmers und war noch völlig verschlafen. »Rudy Flemmons,
nicht derjenige, auf den geschossen wurde.«
»Das habe ich mir bereits gedacht«, erwiderte Tolliver und gähnte. »Du solltest ihm lieber aufmachen.« Er schloss den Reißverschluss
seiner Jeans, und ich knöpfte sie ihm zu, wobei wir uns anlächelten.
Ich ließ Detective Flemmons herein und half dann Tolliver ins Wohnzimmer, damit er sich an dem Gespräch beteiligen konnte.
Tolliver ließ sich vorsichtig auf dem Sofa nieder, und Flemmons nahm den Sessel.
»Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte er.
Ich sah auf meine Uhr. »Na ja, wir haben das Krankenhaus vor etwa anderthalb Stunden verlassen«, sagte ich. »Wir sind direkt
hierher gefahren und haben ein Schläfchen gemacht.«
Tolliver nickte.
Rudy Flemmons sagte: »Haben Sie in
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