Harper Connelly 04 - Grabeshauch
die schon immer Atemwegsprobleme gehabt hatte, noch kränker geworden. Ich konnte mich kaum noch daran
erinnern, sondern wusste nur noch, dass ich eine Riesenangst gehabt hatte. Wir waren schwer beeindruckt gewesen, dass Matthew
sie ins Krankenhaus gebracht hatte.
»Willst du damit sagen, dass ich mich mit Dad anfreunden muss, nur weil er sich ein Mal, ein einziges Mal, wie ein Vater benommen
hat?«, sagte Tolliver, und ich atmete hörbar aus. Er ließ sich nicht so leicht übers Ohr hauen.
»Ach, Tolliver.« Matthew schüttelte den Kopf, das Wort »betrübt« stand ihm in Riesenlettern auf die Stirn geschrieben. »Ich
versuche, anständig zu bleiben, mein Sohn. Verschließe dich nicht gegen mich.«
Ich musste mich schwer zusammenreißen, nichts zu sagen, war aber stolz, dass ich es schaffte, meine Zunge im Zaum zu halten.
Beinahe wäre mir doch etwas herausgerutscht, weil ich befürchtete, Tolliver könnte schwächeln. Doch dann sagte er: »Tschüs,
Mark. Tschüs, Dad. Danke, dass ihr vorbeigekommen seid«, und ich atmete erleichtert auf.
Die beiden Besucher sahen erst sich und dann mich an. Sie wünschten sich eindeutig, dass ich hinausging, aber den Gefallen
tat ich ihnen nicht. Nach einer Weile war klar, dass ich bleiben würde.
Matthew sagte: »Es tut mir leid, dass wir nicht alle …« Seine Stimme brach. »Meine Güte, ich wünschte, ihr beiden könntet vergeben und vergessen.«
Ich fand das unglaublich. Ich hatte meinem Stiefbruder nichts vorzuwerfen, aber dafür meinem Stiefvater: »Wäh rend du uns vernachlässigt hast, habe ich einige der wichtigstenLektionen meines Lebens gelernt, Matthew. Ich hasse dich nicht, aber vergessen werde ich das nie. Denn das wäre wirklich äußerst
dumm von mir.«
Matthew sah mich direkt an, und kurz spürte ich seine unverhohlene Abneigung, bevor er sein wahres Gesicht wieder hinter der
Maske des reumütigen Büßers verbarg.
»Es tut mir leid, dass du so denkst, Harper«, sagte er sanft. »Mein Sohn, ich werde dich in meine Gebete mit einschließen.«
Tolliver sah ihn schweigend an. Dann drehten sich sein Vater und sein Bruder um und verließen das Zimmer.
»Er hasst mich«, sagte ich.
»Ich bin mir gar nicht so sicher, ob er für mich nicht genau dasselbe empfindet«, sagte Tolliver. »Falls ich mal einen Unfall
haben sollte, verständige sie bitte nicht. Ich liebe Mark, und er ist mein Bruder. Aber jetzt steht er wieder unter Dads Fuchtel,
und ich traue ihm nicht mehr über den Weg.«
12
Nach Einbruch der Dunkelheit verließ ich das Krankenhaus und fuhr eine Weile herum, um sicherzugehen, dass mir niemand auf
den Fersen war. Ich war es nicht gewohnt, verfolgt zu werden, sodass mir gut und gerne fünf Wagen hätten folgen können, ohne
dass ich es bemerkt hätte. Aber ich tat mein Bestes. Ich parkte ganz in der Nähe des Hoteleingangs und rannte mehr oder weniger
in die Lobby. Die Suite befand sich im zweiten Stock, und ich wartete im Flur, bis niemand mehr da war, der sehen konnte,
welche Tür ich öffnete.
Ich packte meine Sachen aus und bügelte. Ich war so optimistisch, Tollivers Sachen durchzusehen, um etwas herauszusuchen,
das er bei seiner Entlassung tragen konnte. Die Armbewegung, die nötig war, um in ein T-Shirt oder Polohemd zu schlüpfen, würde ihm bestimmt wehtun. Deshalb entschied ich mich für ein durchgeknöpftes Sporthemd und eine
Jeans. Ich steckte beides in eine kleine Tüte und war vorbereitet.
Nachdem ich die Nachrichten gesehen hatte, rief ich den Zimmerservice. Ich war froh, dass ein Restaurant zum Hotel gehörte,
da ich nicht allein ausgehen wollte. Ich wunderte mich ein bisschen, dass Manfred nicht angerufen hatte, um mit mir essen
zu gehen. Aber auch ohne Begleiter war ich hungrig. Ich bestellte einen Caesar Salad und eine Minestrone. Das dürfte auch
schmecken, wenn der Koch nicht sonderlich talentiert war.
Ich eilte zur Tür, als es wie erwartet klopfte, wartete aber, bevor ich sie aufriss. Meiner Erfahrung nach sagen Hotelangestellte
immer »Zimmerservice«, aber das war diesmal nicht der Fall.
Mit einem Ohr an der Tür lauschte ich. Ich hatte so das Gefühl, dass die Person auf der anderen Seite genau dasselbe tat.
Natürlich hätte ich nachschauen können, wer davor stand. Aber merkwürdigerweise hatte ich zuviel Angst, durch den Spion zu
sehen. Ich hatte Angst, der Schütze könnte vor der Tür stehen und schießen, sobald er wusste, dass ich im Zimmer war. Denn
wenn man
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