Harper Connelly 04 - Grabeshauch
gerade ideale Bedingungen, um sich von einer Schusswunde zu erholen.
»Ich bin so schnell wie möglich wieder zurück«, sagte ich in plötzlicher Panik. »Du rührst dich hier nicht von der Stelle.
Sprich, du gehst wieder ins Bett und siehst fern. Wenn irgendwas ist, ruf ich dich an, einverstanden?«
Auch Tolliver dämmerte inzwischen, dass ich allein zu einem Auftrag unterwegs war. »Nimm einen Schokoriegel aus meiner Jackentasche«,
sagte er, und ich gehorchte. »Tu nichts, was dich in Gefahr bringt«, befahl er streng.
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte ich und sagte Rudy Flemmons anschließend, dass ich so weit war, obwohl das kein bisschen
der Wahrheit entsprach.
Während der Fahrt durch Nieselregen und dichten Verkehr schwiegen wir. Rudy kündigte unsere Ankunft über Funk an, mehr wurde
während der nächsten Viertelstunde nicht gesprochen.
»Ich weiß, dass Sie dafür Geld nehmen«, sagte er plötzlich, während er am Ende einer langen Autoschlange zum Stehen kam, auf
einer Straße, die durch einen riesigen Friedhof führte. Es war einer von der modernen Sorte, auf dem Grabsteine verboten sind.
Ich wurde regelrecht mit den Schwingungen der Leichen bombardiert, sie kamen aus allen Richtungen. Sie waren ausnahmslos sehr
intensiv, da es sich um einen relativ neuen Friedhof handelte. Die älteste Bestattung lag vielleicht zwanzig Jahre zurück.
»Kein Problem, bitte lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen«,sagte ich und stieg aus. Das Letzte, was ich jetzt wollte, war über Geld reden, während ich nach der Freundin dieses trauernden
Mannes suchte.
Man sollte meinen, dass es einfacher ist, wenn man die Person kennt, aber dem ist nicht so. Ansonsten hätte ich meine Schwester
längst gefunden. Die Toten ringen mit gleicher Intensität um Aufmerksamkeit, und wenn Victoria irgendwo hier draußen lag,
war sie einfach nur eine Stimme in diesem Chor. Es fiel mir schwer, die Gräber zu überhören, die um meine Aufmerksamkeit buhlten,
und es war unglaublich schmerzhaft, ohne Tolliver hier zu sein. Ich besaß keinen Rückhalt.
Benutz deinen gesunden Menschenverstand!, ermahnte ich mich. Ich blieb so nahe an dem verlassenen Wagen wie möglich. Ein Techniker
von der Spurensicherung untersuchte die Reifenabdrücke, allerdings so unsystematisch, dass die gröbste Arbeit bestimmt längst
erledigt war. Polizisten suchten den Friedhof ab, der sich über hügeliges Gelände erstreckte. Er war so angelegt wie viele
moderne Friedhöfe: Es gab verschiedene Areale, die durch eine große Statue in der Mitte markiert wurden. Zum Beispiel durch
einen Engel oder ein Kreuz, welche die Besucher zum richtigen Grab führen sollten. Ich wusste nicht, welche Methode hier vorherrschte:
ob die Gräber beginnend von der Skulptur in der Mitte angelegt worden waren oder ob man sich ein bestimmtes Grab in einem
bestimmten Areal aussuchen musste. Die Gräber lagen dicht an dicht. In der Ferne erkannte ich den Schuppen eines Friedhofgärtners
und eine Kapelle – ein kleiner Marmorbau, der wahrscheinlich ein Mausoleum und eine Urnenhalle beherbergte. Auf der anderen
Seite des Friedhofs fand gerade eine Beerdigung statt, während die Suche nach Victoria Flores weiterhin voll im Gange war.
Ich hoffte inständig, dass mich niemand bemerken würde,schloss die Augen und streckte meine Fühler aus. Es gab so viele Signale, die ich durchgehen, so viele Rufe, denen ich Gehör
schenken musste, dass ich zitterte. Aber ich ließ nicht locker.
Frisch, frischer, am frischesten: Ich suchte nach den frischesten Rufen, nach etwas Brandneuem. Also nach jemandem, der erst
gestern oder vor wenigen Stunden gestorben war. Hier, direkt vor mir. Ich öffnete die Augen und lief zu einem Grab, auf dem
noch Blumenschmuck lag. Ich schloss die Augen erneut und streckte meine Fühler aus.
»Nein«, murmelte ich, »hier ist sie nicht.« Ich wunderte mich nicht, als ich den Detective neben mir entdeckte. »Das ist Brandon
Barstow, der bei einem Autounfall starb«, erklärte ich ihm. Ich streckte meine Fühler erneut aus. Ich spürte einen Sog aus
dem Schuppen des Friedhofsgärtners. Er war noch ganz frisch.
»Los geht’s!«, sagte ich zu niemandem im Besonderen und setzte mich in Bewegung. Ich achtete auf meine Schritte, denn wenn
ich erst mal eine Spur aufgenommen habe, vergesse ich schnell, wo ich hintrete. Rudy Flemmons befand sich direkt hinter mir,
aber er wusste nicht, wie er mir helfen konnte. Das war in
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