Harper Connelly 04 - Grabeshauch
gegen die Fensterscheiben. Ich ging zum Bett, beugte mich
darüber und zog Rudy Flemmons alte Jacke auf. Die Mappen plumpsten laut auf den Bettüberwurf.
»Was hast du getan?«, fragte Tolliver weniger vorwurfsvoll als neugierig. Er machte den Fernseher aus und griff nach dem Bündel,
aber ich war schneller. Ich löste das Gummiband, legte es für nachher beiseite und reichte ihm dann die oberste Mappe, auf
der »Lizzie Joyce« stand.
»Sie war also tatsächlich dort«, sagte er. »Verdammt, sie hat ihre kleine Tochter geliebt. Die Sache nimmt immer schlimmere
Formen an. Hat es lange gedauert, bis du sie gefunden hast?«
»Zehn Minuten«, sagte ich. »Ein Streifenpolizist hat mich zurückgebracht.«
»Du hast die Mappen gestohlen?«
»Ja. Aus Victorias Kofferraum.«
»Wie wahrscheinlich ist es, dass sie danach suchen werden?«
»Ich weiß nicht, wie genau sie hingesehen haben, bevor alle losgerannt sind, in der Hoffnung, sie wiederzubeleben. Vielleicht
hatten sie schon Fotos gemacht.« Ich zuckte die Achseln. Ich konnte es nicht mehr rückgängig machen.
»Nach was suchen wir?«, fragte er.
»Wir versuchen herauszufinden, wer von diesen Leuten höchstwahrscheinlich auf dich geschossen hat.«
»Dann hast du meine ungeteilte Unterstützung«, sagte er.
Ich zog meine nassen, schlammbespritzten Stiefel aus undkletterte zu ihm ins Bett. Dann begann ich mit Kates Mappe, während er sich mit Lizzies beschäftigte.
Eine Stunde später musste ich eine Pause einlegen und den Zimmerservice bestellen, damit er uns Kaffee und etwas zu essen
brachte. Wir hatten noch nicht gefrühstückt, und es war schon fast elf.
Wir hatten viel gelernt.
»Sie war wirklich gut«, sagte ich. Ich hatte Victoria vorher nie besonders zu schätzen gewusst, aber jetzt tat ich es. In
kürzester Zeit hatte sie unzählige Informationen zusammengetragen und viele Leute befragt.
Tolliver war dankbar für eine Tasse Kaffee und freute sich auch über den Vollkornmuffin. Ich bestrich ihn mit Butter, ein
ungewohnter Luxus. Er kaute, schluckte und nippte erneut an seinem Kaffee. »Meine Güte, schmeckt das gut nach dem Krankenhausfraß«,
sagte er. »Lizzie Joyce ist eine schillernde Persönlichkeit, noch schillernder als auf dem Friedhof. Sie ist wirklich Champion
im Tonnenrennen, und das gleich mehrfach. Außerdem hat sie öfter im Rodeo gewonnen. Schon als Teenager war sie Rodeo Queen,
und zwar die des ganzen Bundesstaates. Außerdem hat sie die Highschool mit Auszeichnung abgeschlossen und war Dreizehnte ihres
Jahrgangs an der Baylor University.«
Ich hatte keine Ahnung, aus wie vielen Leuten ein Jahrgang an der Baylor University besteht, aber ich war schwer beeindruckt.
»Was hat sie denn studiert? Ich bin bloß neugierig.«
»Betriebswirtschaft«, sagte er. »Ihr Dad hatte sie bereits zur Nachfolgerin auserkoren. Den Joyces gehört die riesige Ranch,
aber der Großteil des Geldes stammt aus dem Öl-Boom. Danach wurde es investiert, viel davon in Übersee. Es gibt gleich mehrere
Steuerberater, die sich ausschließlich um die Firmenbeteiligungen der Joyces kümmern. Laut Victoriabehalten sie sich gegenseitig im Auge, sodass sich keiner von ihnen Betrügereien erlauben kann, und wenn, nicht ungeschoren
damit davonkommt. Die Joyces besitzen außerdem hohe Anteile an einer Anwaltskanzlei, die ein Onkel gegründet hat.«
»Und was machen sie?«, fragte ich,
Tolliver verstand sofort, was ich meinte, was im Grunde erstaunlich war.
»Sie spenden viel für die Krebsforschung, denn daran ist die Frau von Rich Joyce gestorben. Sie unterhalten eine Ranch für
behinderte Kinder. Das ist ihre größte Wohltätigkeitsorganisation. Sie ist fünf Monate im Jahr geöffnet, und die Joyces bezahlen
die Angestellten, obwohl sie auch Spenden annehmen. Dann ist da noch die Hauptranch, die von Lizzies Freund Chip Moseley geleitet
wird. Dort leben sie, wenn sie nicht gerade in ihren Apartments in Dallas oder Houston sind. Die Unterlagen über den Freund
habe ich noch nicht gelesen.«
»Ich komme gleich dazu«, sagte ich. »Kate, auch Katie genannt, ist nicht so klug wie ihre Schwester. Sie ist von der Texas
A&M University geflogen, nachdem sie sich vor allem als wilde Partygängerin hervorgetan hat. Als Teenager wurde
sie einige Male betrunken am Steuer erwischt, und sie hat das Wagenfenster eines Freundes zertrümmert, nachdem sie sich getrennt
hatten. Seitdem scheint sie ein wenig erwachsener geworden zu sein. Sie
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