Harper Connelly 04 - Grabeshauch
arbeitet auf der kleinen Ranch, die für die behinderten
Kinder gegründet wurde. Sie organisiert Fundraising-Veranstaltungen und macht Einkäufe. Ach ja, sie hat auch ein freiwilliges
Praktikum im Zoo absolviert.«
Das klang wirklich langweilig.
Chip Moseley war da schon deutlich interessanter. Er hatte sich ganz schön hochgearbeitet. Seine Eltern waren gestorben,als er noch klein war. Danach war er in eine Pflegefamilie gekommen, und zwar auf eine Ranch. Er hatte das Rodeoreiten gelernt
und sich darin einen Namen gemacht. Gleich nach der Highschool hatte er einen Job auf der Joyce-Ranch bekommen. Er hatte sich
hochgeackert, die Abendschule besucht und managte jetzt den Viehhandel der Ranch. Er hatte schon eine Ehe hinter sich und
war jetzt seit sechs Jahren mit Lizzie zusammen. Abgesehen von einem kleinen Gesetzeskonflikt mit Anfang zwanzig besaß er
keinerlei Vorstrafen. Er war mal in eine Kneipenschlägerei in Texarkana verwickelt gewesen. Zu meiner Überraschung kannte
ich den Namen des Lokals. Meine Mutter und mein Stiefvater waren dort manchmal hingegangen.
Das Lesen hatte mich ermüdet und ich ließ mich zurück auf mein Kissen sinken. Tolliver erzählte mir, was in Victorias Unterlagen
über Drex stand, obwohl ich mir das meiste schon nach zehn Minuten in Drex’ Gesellschaft zusammengereimt hatte. Der einzige
männliche Nachkomme der Joyces war die totale Enttäuschung. Er hatte seine Freundin von der Highschool geschwängert, und die
beiden waren zusammen abgehauen, um zu heiraten. Ein halbes Jahr später hatten sie sich wieder scheiden lassen. Drex zahlte
Unterhalt für das Kind und seine Mutter. Mit achtzehn war er zu den Marines gegangen, um seinem Vater eins auszuwischen. Dort
hatte er die Grundausbildung absolviert, bis er ein Magengeschwür bekam. Vielleicht hatte sich ein bestehendes Magengeschwür
auch nur verschlechtert. Wie dem auch sei, er war ehrenhaft entlassen worden und hatte mal dies, mal jenes auf der großen
Ranch seines Vaters erledigt. Phasenweise hatte er auch mit den behinderten Kindern gearbeitet und im Büro einer Firma, die
dem Freund seines Vaters gehörte. Was genau er dort getan hatte, ging nicht aus den Unterlagen hervor.
»Wahrscheinlich nicht viel, und wahrscheinlich nicht sehr erfolgreich«, sagte Tolliver. »Ich glaube, er hat nie studiert.«
»Er tut mir leid«, sagte ich und gähnte. »Wie alt wohl Victorias Mom ist? Ob sie das Kind allein großziehen kann? Wer ist
der Vater? Hat Victoria dir das jemals erzählt?«
»Ich habe mich schon mal gefragt, ob es mein Vater ist«, sagte Tolliver, und ich erstarrte mitten in einem neuen Gähnanfall.
»Du machst keine Witze«, stellte ich fest. »Du meinst das ernst.«
»Ja«, erwiderte er. »Victoria war nach Camerons Verschwinden häufig bei uns. Aber als ich der Sache nachging, stimmte das
Timing nicht. Ich glaube, er saß schon im Gefängnis, als das Kind gezeugt wurde. Ich habe noch nie verstehen können, was Frauen
an ihm finden.«
»Ich ganz bestimmt nichts«, sagte ich vollkommen aufrichtig.
»Zum Glück. Du magst größere, schlankere Männer, stimmt’s?«
»Und ob ich das tue!«
Wir fassten uns bei den Händen, und ich schmiegte mich enger an Tolliver. Wir schwiegen eine Weile und sahen zu, wie der Regen
gegen das Fenster prasselte. Der Himmel hatte beschlossen, sein Trauerkleid anzulegen. Mir taten alle leid, die noch am Tatort
waren. Im Grunde mussten sie mir dankbar sein, dass ich Victoria so schnell gefunden hatte – gerade noch rechtzeitig, dass
sie ihre Leiche aus dem Abflussrohr bergen konnten. Ich musste an die Joyces denken, was sie für typische reiche Gören geworden
waren. Sie taten auch Gutes, aber ich interessierte mich für die bösen Dinge. Ich fand es vielsagend, dass keiner von ihnen
glücklich verheiratet war – obwohl sie alle im entsprechenden Alter waren.Dem einen oder anderen würde es vielleicht doch noch beschieden sein. Ich dachte gerade an die Binsenweisheit, dass Geld nicht
glücklich macht, als mir auffiel, dass Mark, Tolliver, Cameron und ich auch nicht gerade ein erfülltes Leben führten. Cameron
war Gott weiß wo, Mark hatte meines Wissens noch nie eine ernst zu nehmende Freundin gehabt, und Tolliver und ich …
»Möchtest du wirklich heiraten?«, fragte ich.
»Ja, das möchte ich«, sagte Tolliver, ohne eine Sekunde zu zögern. »Ich würde dich gleich morgen heiraten, wenn das ginge.
Du zweifelst doch hoffentlich
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