Harper Connelly 04 - Grabeshauch
Manfred. »Hm.«
Jetzt verstand ich besser, warum ich manche Leute so nervös mache, nachdem sie gesehen haben, wie ich mit Übernatürlichem
Kontakt aufnehme. Mit dem unsichtbaren Teil unserer Welt, der für die meisten nur schwer zugänglich ist. Ich spürte die Anspannung
in Tollivers Hand.
Wieder suggerierten Zuckungen in Manfreds Körper, dass er Victorias Bewegungen nachvollzog. Er schien eindeutig an etwas zu
ziehen. Ich war mir sicher, dass er die Schlafcouch auszog, um Mariahs Mappe zu verstecken. Victoria – nein, Manfred – wandte
abrupt den Kopf und riss entsetzt die Augen auf.
»Ich werde sterben«, sagte er. »Oh Gott, ich werde noch heute Nacht sterben.«
14
Manfred brauchte mindestens eine Viertelstunde, bis er nicht mehr Victorias letzte Minuten durchlebte.
»Wen hat sie gesehen?«, fragte Tolliver.
»Das weiß ich nicht«, sagte Manfred. »Ich konnte niemanden erkennen.«
»Na, das hat uns ja wirklich wahnsinnig weitergeholfen«, bemerkte Tolliver, woraufhin ich eine Hand auf seine Schulter legte
(auf seine gesunde, natürlich).
»Das hat uns durchaus weitergeholfen«, sagte ich. »Wir wissen, was Victoria gedacht hat, und wir wissen, dass sie wegen dieses
Falles umgebracht wurde. Davon ging Victoria aus, denn sonst hätte sie diese Unterlagen nicht versteckt. Sie befürchtete,
jemand könnte ihr Büro durchsuchen, sie verfolgen. Deshalb hatte sie die anderen Unterlagen über die Joyces bereits in ihr
Auto gebracht. Sie glaubte nicht, dass man ihr etwas antun würde, aber sie hat ihren Ex-Freund Rudy Flemmons angerufen, damit
er auf sie aufpasst. Er ist nicht ans Telefon gegangen oder hat ihre Nachricht nicht rechtzeitig erhalten. Kein Wunder, dass
er jetzt am Boden zerstört ist.«
»Das alles wissen wir, aber weiterhelfen tut uns das nicht.« Tolliver blieb stur.
»Lass uns Mariahs Akte anschauen. Vielleicht bringt uns das weiter.«
Manfred wirkte erschöpft, ja regelrecht gealtert. Er sah sehr einsam aus. Ich hatte großes Mitleid mit ihm, wolltees aber nicht übertreiben. Mitleid und eine vage körperliche Anziehung reichten nicht aus, um meine Beziehung zu Tolliver
aufs Spiel zu setzen. Manfred musste sich eindeutig eine andere suchen.
Ich fragte mich, welche Frau wohl zu Manfred passen würde, bis mir klar wurde, dass die Antwort lautete: jede außer mir.
Inzwischen war es fast fünf Uhr nachmittags. Ich bestellte beim Zimmerservice etwas zu essen und Kaffee, bevor ich nach den
Unterlagen griff. Ich blätterte die erste Seite mit Mariahs persönlichen Daten auf und las sie sorgfältig durch. Dann reichte
ich sie Tolliver, der sie seinerseits studierte. Während wir uns die Informationen ansahen, die Victoria über Mariah zusammengetragen
hatte, las Manfred die Unterlagen über die Joyces.
»Mariah Parish war nicht die, als die sie sich ausgab«, sagte ich, was noch untertrieben war.
Tolliver schüttelte den Kopf. »Das kann man wohl sagen! Hätten die Joyces ihre Referenzen besser überprüft, hätten sie sie
niemals eingestellt.«
Mariah war keine Betrügerin. Sie war eine Waise gewesen, genau wie sie gesagt hatte. Sie hatte einen anderen kranken älteren
Mann, Arthur Peaden, gepflegt, bevor sie zu Rich Joyce gekommen war. Sie hatte ihre Arbeit gut gemacht, denn es gab großes
Lob von Art Peadens Nachkommen. Sie hatten erzählt, wie liebenswert und wie gewissenhaft Mariah gewesen sei, als sie sich
um ihren Vater kümmerte.
Sie hatte auch ein Fernstudium absolviert. Irgendwann hatte sie Abende frei bekommen, um die Seminare persönlich zu besuchen.
Und schließlich hatte sie einen Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht.
Nebenbei hatte Mariah online an der Börse gehandelt, und zwar nicht zu knapp. Anfangs hatte sie Geld verloren,aber dann hatte sie sich trotz der abflauenden Märkte gut gehalten. Die Babysitterin eines Erwachsenen profitierte dermaßen
von ihrem Job, wie es niemand für möglich gehalten hätte.
»Wow«, sagte Tolliver bewundernd. »Sie hat sich sämtliche Tricks beigebracht.«
»Ich nehme an, ihr ›Patient‹ hat in ihrem Beisein kein Blatt vor den Mund genommen, genau wie seine Freunde und Familienangehörigen.
Und sie hat sich alles zunutze gemacht, was sie so mitbekam.«
»Pflegerin bei Tag und Börsenhändlerin bei Nacht«, sagte Manfred. »Man muss sie direkt für ihre Nerven und ihre Zielstrebigkeit
bewundern.«
»Und für ihre Heimlichtuerei«, sagte ich und zog die Nase kraus. »Grenzt das nicht an
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