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Harpyien-Träume

Titel: Harpyien-Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
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junge Tochter zu ernähren. Kaum, daß sie sich selbst und ihrem Kind eine Ruhepause gönnte. Aber so beschäftigt und fleißig die Vettel auch war, liebte sie doch ihre Tochter und nahm sich eines Tages die Zeit, ihr einen guten Rat zu geben.
    »Heide, meine geliebte Tochter, wenn die Balz über einen jungen Mann kommt, versagt er dabei, auf Zeitgemäße & Angemessene Weise zu handeln. Verstehst du?«
    »Nein, liebste Mutter«, erwiderte die unschuldige Heide, so wie ein braves Mädchen es tun mußte.
    »Nicht? Dann paß mal auf: Ein junger Mann wird dann plötzlich so heiß, daß nicht einmal die Dorfschafe vor ihm in Sicherheit sind. Verstehst du mich jetzt?«
    »Nein, liebste Mutter«, antwortete Heide verlegen, weil sie es nicht mochte, ihre Mutter in Verlegenheit zu bringen.
    »Nicht? Hast du denn eine Vorstellung davon, wie man den Storch ruft?«
    »Nein, liebste Mutter«, antwortete Heide. »Das gehört doch zur Erwachsenverschwörung. Deshalb habe ich natürlich noch nie vom Storch gehört. Warum erzählst du mir das alles?«
    »Weil ich auch einmal so unwissend war wie du, und so kam es dazu, daß ich den Storch gerufen habe, der dich gebracht hat, liebste Tochter. Ich möchte nicht, daß du denselben Fehler begehst.«
    »Aber wie konntest du denn den Storch rufen, wenn du nicht einmal wußtest, wie das geht, liebste Mutter?« fragte Heide, doppelt verwundert. »Ich jedenfalls kann nichts tun, von dem ich nicht weiß, wie es geht.«
    »Bei den Ogern und Nachtmähren Xanths, Heide – sag einfach nein!!«
    Heide war tief beeindruckt, denn noch nie hatte sie so ein doppeltes Ausrufezeichen vernommen. Sie nahm sich die Lektion zu Herzen und hob sich ihr entschiedenstes Nein für die Gelegenheit auf, da sie einem jungen Mann begegnen würde, der sich Unzeitgemäß & Unangemessen verhielt oder irgendwelche Schafe mißhandelte.
    Doch mit zunehmendem Alter wurde sie sich auch gewisser gesellschaftlicher Gepflogenheiten bewußt. Sie bemerkte, daß ihre Mutter stets Arbeitskleider trug und mit den Händen arbeitete, die dementsprechend schwielig und verknorpelt waren, und so begann sie sich für die alte Vettel zu schämen. Also tat sie, was alle Heranwachsenden in einer derart unerträglichen Lage taten: Sie schrie ihre Mutter an, beschimpfte sie mit üblen Bezeichnungen wie ›Alte‹, ›Hexe‹ und ›Schrulle‹, ja mit allem, außer dem richtigen Ausdruck ›Vettel‹, und um das Gesagte erst so richtig zu unterstreichen, brannte sie auch noch mit Schatten durch, dem Dorftrottel. Dieser Mann kannte die Bedeutung der Worte Zeitgemäß oder Angemessen nicht, und er war auch ungeheuer bösartig zu den Schafen, indem er sie jeden Frühling schor, und so brach es der alten Vettel das Herz.
    Natürlich verstand der Idiot auch nichts vom Herbeirufen des Storchs. So vergnügten die beiden sich einfach nur. Doch durch irgendeinen merkwürdigen Zufall gewann der Storch die Überzeugung, daß dieses Paar einen Säugling verdient hatte. Das war ganz offensichtlich eine Verwechslung, denn Heide, die einst eine Figur wie eine Sanduhr gehabt hatte, schien langsam an Sand zuzunehmen. Sie wurde von Tag zu Tag fetter und schien kaum in der Lage zu sein, mit einem Säugling zurechtzukommen. Auf jeden Fall wußte sie nichts von den Vorstellungen des Storchs. Lange Zeit tat sie so, als hätte sie keinen Appetit, und sie verzehrte nichts anderes als ein paar schwarze und blaue Beeren, die sie aus den Gärten der Nachbarn gestohlen hatte, sowie ein paar Kekse. Sie behauptete, daß diese besser schmeckten als die guten Suppen ihrer Mutter und ihre Eintöpfe und ihr hausbackenes Bauernbrot. Schatten kochte ihr mehrmals klebrigen gelben Bananenraupenbrei, doch der ließ Heide nur ihre Kekse ausspeien. Das gefiel Schatten nicht, denn er hatte etwas dagegen, daß man Kekse vergeudete. Was wiederum bewies, was für ein Trottel er tatsächlich war, woran Heide ihn auch häufig genug erinnerte.
    Schließlich kam der Tag, da Heide ebensoviel Mißfallen an Schatten fand wie schon zuvor an ihrer vettelhaften Mutter. Als sie eines Nachts im Dunkeln dalag, durchgefroren und hungrig, kochte ihre Ungeduld ob ihrer Lage auf eisige Weise über. »So, die letzten neun Monate habe ich genug für die Menschheit gelitten. Ich will meine Mutter wiederhaben, auch wenn sie eine Vettel ist. Wenn es diesem Idioten Schatten nicht gefällt, kann er von mir aus mit irgendeiner anderen in den Küß-mich-See springen.« Denn inzwischen war Heide klar, daß ihre

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