Harpyien-Träume
sich wünschte, Trent als faszinierende erwachsene Frau beeindrucken zu können, aber nicht wußte, wie sie das anstellen sollte. Deshalb machten Gloha ihre Gefühle das Leben noch schwerer, als es ohnehin schon war. »Jedenfalls bin ich neugierig zu erfahren, was an der Region des Wahnsinns eigentlich so merkwürdig sein soll.«
»Wie du möchtest«, sagte Trent seufzend.
Mark Knochen legte den Schädel schräg und schien mit den nichtexistenten Augen zu rollen.
Sie machten sich auf den Weg. Nach Südosten. Windabwärts. Es gab keine Probleme. Die Landschaft bestand aus wogenden Hügeln, von Wäldern und Feldern bedeckt, hin und wieder von einem umherwandernden Fluß durchzogen. Trent wollte gerade durch den ersten Fluß waten, als das Skelett ihn davon abhielt.
»Gib mir einen Tritt«, sagte Mark.
»Danke«, erwiderte Trent.
Gloha glaubte, daß sie scherzten, obwohl keiner von beiden bisher sonderlich viel Humor bewiesen hatte. Doch nun beugte Mark sich vor, und Trent verpaßte der Hüfte des Skeletts einen wuchtigen Tritt. Mark stob auseinander. Die Knochen landeten in einem Haufen – in der Form eines kleinen Bootes. Trent schob das Boot ins Wasser, wo es an der Oberfläche trieb, obwohl es gar nicht wasserdicht zu sein schien. Dann stieg er ein und nahm Platz. Von eigener Kraft getrieben, setzte das Fahrzeug nun über. Am gegenüberliegenden Ufer angekommen, stieg Trent aus und gab dem Boot einen erneuten Tritt, worauf die Knochen auseinanderflogen und sich zu Marks natürlicher Gestalt zusammensetzten.
Irgendwann riß auch Gloha sich aus ihrer Erstarrung. Sie hatte zwar gewußt, daß wandelnde Skelette die Anordnung ihrer Knochen verändern konnten, hatte aber nicht geahnt, wie nützlich so etwas sein konnte. Schließlich hatte Mark sich ja auch in einen Kneifer verwandelt, um dem Drachen die Nase zuzuhalten. Trents Tritte hatten das Ganze einfach nur erleichtert. Gloha selbst überquerte den Fluß im Flug; dann setzten sie auf der gegenüberliegenden Seite ihren Marsch fort.
»Wir scheinen die Region des Wahnsinns zu erreichen«, bemerkte Trent. »Vielleicht haben die Leute im Dorf des Magischen Staubes die letzten paar Tage mit verminderter Kraft gearbeitet, weil sich der Giftstrom näherte. Deshalb ist der Staubpegel noch nicht so hoch. Aber inzwischen werden sie wieder mit vollem Einsatz arbeiten. Da dürften wir auch mehr von der Wirkung mitbekommen.«
»Ich glaube, du hast recht«, stimmte Mark zu, wobei er seinen Totenschädel nach ihm umdrehte. »Da scheint gerade eine Schwade auf uns zuzukommen.«
»Na, ich kann jedenfalls keinerlei Wahnsinn erkennen«, versetzte Gloha schnippisch. Das hätte sie lieber nicht getan.
Gloha lutschte und saugte ihre klebrigen Fingerspitzen ab. Sie war zwar zu alt für Tante Grobschwanzens Honigkuchen, aber jeder Klecks Honig machte Appetit auf mehr. Sie seufzte, denn ihre Freude war von ein bißchen Traurigkeit getrübt. Im Alter von achtzehn Jahren hätte sie eigentlich schon zu erwachsen für diese vielen Süßigkeiten sein müssen. Andererseits war sie noch zu jung für die Müllrituale der Kobolde. Und im Augenblick langweilte sie sich fürchterlich, das gute Werk tun zu müssen, wieder mal auf ihren schrecklichen kleinen Bruder Harglo aufzupassen. Er mochte zwar ihr Bruder sein, gehörte aber trotzdem nicht ihrer Art an: Er hatte den Kopf und die Beine eines Kobolds, aber den gefiederten Körper einer Harpyie samt Schwanz, und keine Hände. Er war ein kräftigerer Flieger als Gloha und konnte auch schneller und ausdauernder rennen; dafür war es ihm mit seinen Flügeln nicht möglich, schwierigere Tätigkeiten zu bewältigen, für die man nun einmal Hände brauchte. Diesen Mangel machte er durch seine hervorragende Beherrschung des Harpyienvokabulars wett. Schon im Alter von neun Jahren war er in der Lage, mit seinen Flüchen Laub zum Welken zu bringen, obwohl er sich nur auf Ausdrücke beschränkte, die nicht unter die Erwachsenenverschwörung fielen.
Heute aber war Gloha frei von Harglo, da er Flugstunden (und wahrscheinlich auch verbotene Fluchstunden) von Tante Schandmaul bekam. Deshalb konnte sie sich in aller Ruhe entspannen und den Tag genießen.
Weshalb war sie dann nicht glücklich? Gloha kostete wieder ihre Fingerkuppen, doch diesmal ließen ihre sengendheißen, salzigen Tränen die Finger schmerzen wie von einem ganzen Schwarm stechender Seewespen. Ihr Problem bestand darin, daß sie heute endlich einmal Zeit hatte, zu erkennen, wie sehr
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