Harry Bosch 02 - Schwarzes Eis
das etwas? «
Endlich drehte sie sich zu ihm um. Im hellen K ü chenlicht konnte er die Salzspuren sehen, die die Tr ä nen hinterlassen hatten. Ein Gef ü hl der Unzul ä nglichkeit erf ü llte ihn, er war ein Nichts und konnte nichts f ü r sie tun.
» Ich wei ß nicht. Mein Mann … Er hat seine Vergangenheit mit sich herumgeschleppt.«
» Was meinen Sie damit? «
» Er war … Er hat sich st ä ndig in seine Vergangenheit gefl ü chtet. F ü r ihn war die Vergangenheit besser als die Gegenwart – oder die Hoffnung auf die Zukunft. Er fl ü chtete gern in die Erinnerung an seine Kindheit. Er … Er konnte sich nicht von seiner Vergangenheit l ö sen.«
Tr ä nen rannen ihr in die Falten unter den Augen. Sie drehte sich zum B ü ffet und go ß wieder Kaffee ein.
» Was ist mit ihm passiert? «
» Was kann mit einem passieren? « Sie sprach f ü r einen Moment nicht. » Ich wei ß nicht. Er wollte zur ü ck. In der Vergangenheit gab es irgend etwas, was er brauchte.«
Jeder sehnt sich nach seiner Vergangenheit, dachte Bosch. Manchmal zerrt sie an einem st ä rker als die Zukunft. Sylvia Moore trocknete sich mit einem Taschentuch die Augen und reichte ihm dann seinen Kaffeebecher.
» Er hat einmal erw ä hnt, da ß er in einem Schlo ß lebte «, sagte sie. » So hat er es wenigstens bezeichnet.«
» In Calexico? «
» Ja, allerdings nur kurz. Ich wei ß nicht, was passiert ist. Er hat mir nie viel von diesem Abschnitt seines Lebens anvertraut. Es hatte mit seinem Vater zu tun. Irgendwann wollte sein Vater ihn nicht mehr haben. Seine Mutter und er mu ß ten Calexico und das Schlo ß , oder was es war, verlassen. Sie ist mit ihm ü ber die Grenze. Er hat immer gern erz ä hlt, er k ä me aus Calexico, in Wirklichkeit wuchs er jedoch in Mexicali auf. Ich wei ß nicht, ob Sie schon mal da waren? «
» Nur durchgefahren. Ich habe nie angehalten.«
» Dann wissen Sie ja, wie es dort aussieht. Man f ä hrt vorbei. – Aber er ist dort aufgewachsen.«
Sie sprach nicht weiter und sah auf ihren Kaffee – eine attraktive Frau, die des Themas ü berdr ü ssig war. Er wartete ab. Noch war ihr nicht klar geworden, da ß dies nicht nur ein Ende, sondern auch ein neuer Anfang f ü r sie war.
» Er ist nie dar ü ber hinweggekommen, verlassen zu werden. Er ist oft zur ü ck nach Calexico. Ich bin nicht mitgefahren, aber ich wu ß te, da ß er es tat – allein. Wahrscheinlich hat er seinen Vater belauert. Vielleicht wollte er sich vor Augen f ü hren, wie es h ä tte sein k ö nnen. Wer wei ß ? Er hat Bilder von seiner Kindheit aufbewahrt. Manchmal nachts, wenn er dachte, da ß ich schlief, holte er sie hervor und betrachtete sie.«
» Lebt er noch, der Vater? «
» Wei ß ich nicht. Er sprach selten von seinem Vater, und wenn, dann sagte er, da ß sein Vater tot sei. Aber ich wei ß nicht, ob das metaphorisch gemeint war oder ob er wirklich tot war. F ü r Cal war er jedenfalls tot. F ü r ihn war es eine sehr pers ö nliche Angelegenheit. Er f ü hlte immer noch die Ablehnung – nach all diesen Jahren. Ich konnte ihn nicht dazu bringen, dar ü ber zu sprechen. Wenn er es mal tat, log er. Der alte Mann w ü rde ihm nichts bedeuten, es w ü rde ihm nichts ausmachen. Aber es war ihm nicht egal. Nach einigen Jahren habe ich aufgeh ö rt zu versuchen, mit ihm dar ü ber zu reden. Selbst hat er das Thema nie angesprochen. Aber er ist dorthin gefahren – manchmal f ü r ein Wochenende, manchmal f ü r einen Tag. Wenn er zur ü ckkam, hat er nichts gesagt.«
» Haben Sie Fotos? «
» Nein, er hat sie mitgenommen, als er ging. Er h ä tte sie nie hiergelassen.«
Bosch trank einen Schluck Kaffee, um nachzudenken.
» Es scheint …«, begann er. » Ich wei ß nicht … K ö nnte das etwas zu tun haben mit …«
» Ich hab’ keine Ahnung. Aber ich kann Ihnen sagen, da ß es viel mit uns zu tun hatte. Es war eine Manie. F ü r ihn war es wichtiger als ich. Es hat unsere Beziehung zerst ö rt.«
» Was wollte er finden? «
» Ich wei ß nicht. In den letzten Jahren hat er sich abgekapselt. Und nach einer Weile habe ich es auch getan. So ist es zu Ende gegangen.«
Bosch nickte und wandte seinen Blick von ihren Augen. Was konnte er noch tun? Manchmal versetzte ihn sein Job mitten ins ganz private Leben von Menschen, und alles, was er tun konnte, war Dastehen und Nicken. Er hatte Schuldgef ü hle, wenn er Fragen stellte, auf deren Beantwortung er kein Recht hatte. Hier war er nur der Bote. Er war nicht beauftragt
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