Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
um.
Verlegen ließ McCaleb seine Waffe sinken, als der Mann sie mit großen Augen anstarrte.
»Mr. McCaleb, ich …«
»Schon gut, Charlie, ich wusste ja nicht, dass Sie es sind.«
Charlie war der Mann, der in der Hafenmeisterei immer den Nachtdienst hatte. Seinen Nachnamen wusste McCaleb nicht. Aber er wusste, dass er Buddy Lockridge oft besuchte, wenn dieser über Nacht auf dem Boot blieb. McCaleb vermutete, dass Buddy in den langen Nächten eine gute Anlaufstation für ein Bierchen war. Das war wahrscheinlich der Grund, warum Charlie vom Pier herübergerudert war.
»Ich habe Licht brennen sehen und dachte, Buddy ist hier«, sagte er. »Ich wollte nur kurz vorbeischauen.«
»Buddy ist heute auf dem Festland. Wahrscheinlich kommt er erst am Freitag wieder.«
»Dann verdrücke ich mich mal lieber wieder. Und nochmals Entschuldigung. Sonst so weit alles klar? Sie schlafen doch nicht wegen Ihrer Frau auf dem Boot, oder?«
»Nein, Charlie, keine Sorge. Ich muss nur ein wenig arbeiten.«
Er hielt den Brieföffner hoch, als erklärte das, was er tat.
»Na schön, dann werde ich mich mal wieder auf den Rückweg machen.«
»Gute Nacht, Charlie. Und danke, dass Sie nach mir gesehen haben.«
McCaleb ging wieder in die Kajüte und ins Büro hinunter. Er fand das Vergrößerungsglas mit dem Lämpchen schließlich ganz unten in der Schachtel mit Büroutensilien.
In den nächsten zwei Stunden betrachtete er wie gebannt die Gemälde mit ihren gespenstischen Landschaften voller phantasmagorischer Dämonen, die ihre menschlichen Opfer peinigten. Besondere Entdeckungen wie die Eulen kennzeichnete er mit gelben Haftnotizen, um sie schneller wieder zu finden.
Schließlich hatte er eine Liste mit sechzehn Eulendarstellungen und einem Dutzend eulenähnlicher Wesen und Bauten zusammengestellt. Die Eulen hatten eine dunkle Färbung und lauerten auf allen Gemälden wie Schergen der ewigen Verdammnis. Unwillkürlich kamen ihm bei ihrem Anblick die Parallelen zwischen Eulen und Detektiven in den Sinn. Beide waren Nachtlebewesen, beide Späher und Jäger – Beobachter des Bösen und des Leids, das Menschen und Tiere einander zufügten.
Die wichtigste Entdeckung, die McCaleb bei der Betrachtung der Gemälde machte, war jedoch keine Eule. Es war eine menschliche Gestalt. Er entdeckte sie, als er die Mitteltafel des Jüngsten Gerichts mit dem beleuchteten Vergrößerungsglas studierte. Vor dem Höllenofen, in den die Sünder geworfen wurden, lagen mehrere gefesselte Opfer, die zerstückelt und verbrannt werden sollten. Unter ihnen entdeckte McCaleb einen nackten Mann, dem Arme und Beine so auf den Rücken gefesselt waren, dass sich sein Körper zu einer umgekehrten Embryonalhaltung verkrümmte. Die Abbildung wies auffällige Ähnlichkeiten mit dem auf, was er auf dem Tatortvideo und den Fotos von Edward Gunn gesehen hatte.
McCaleb markierte die Entdeckung mit einer Haftnotiz und schloss das Buch. Als im selben Moment direkt neben ihm das Handy loszuträllern begann, setzte er sich erschrocken kerzengerade auf. Er sah auf die Uhr, bevor er den Anruf entgegennahm, und stellte fest, es war bereits Mitternacht.
Es war Graciela.
»Ich dachte, du würdest heute Abend nach Hause kommen.«
»Tue ich auch. Ich bin gerade fertig geworden und wollte eben los.«
»Du bist doch mit dem Cart zum Hafen runtergefahren, oder?«
»Ja. Mach dir also deswegen keine Sorgen.«
»Gut, dann bis gleich.«
»Bis gleich.«
Da er bis zum nächsten Morgen abschalten wollte, beschloss McCaleb, alles auf dem Boot zu lassen. Wenn er die Akten und die schweren Bildbände mitnahm, würden sie ihn nur an die belastenden Gedanken erinnern, mit denen er sich trug. Er schloss das Boot ab und fuhr mit dem Zodiac zum Anleger für Beiboote. Am Ende des Piers stieg er in den Golfcart. Er fuhr durch das ausgestorbene Geschäftsviertel und den Hügel zu seinem Haus hinauf. Obwohl er versuchte, an etwas anderes zu denken, kehrten seine Gedanken doch immer wieder an den Abgrund zurück. An einen Ort, an dem Kreaturen mit spitzen Schnäbeln und Klauen und Messern die auf ewig Verdammten quälten. Eines wusste er jetzt schon sicher. Der Maler Bosch hätte einen guten Profiler abgegeben. Der Mann wusste Bescheid. Er kannte sich aus mit den Albträumen, die den meisten Menschen durch die Köpfe spukten. Und mit denen, die manchmal nach draußen drangen.
15
D a die Anwälte mit dem Richter hinter verschlossenen Türen noch über die letzten Anträge diskutierten,
Weitere Kostenlose Bücher