Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
Fall. Er sah sich jedes Tatortfoto zweimal täglich an – am Morgen gleich nach dem Aufwachen und am Abend unmittelbar vor dem Schlafengehen – und er studierte die Berichte immer wieder. Schließlich sagte er Bosch, er glaube, sie seien auf dem richtigen Weg. Mithilfe von Daten, die über hunderte ähnlicher Verbrechen gesammelt und mit dem VICAP-Programm des FBI ausgewertet worden waren, erstellte er ein Täterprofil von einem Mann Ende Zwanzig, der bereits mehrere Verbrechen von zunehmender Schwere begangen hatte, zu denen aller Wahrscheinlichkeit nach auch Sexualdelikte gehörten. Der Tatort deutete auf einen Exhibitionisten hin – einen Mörder, der es darauf anlegte, dass seine Tat bekannt wurde und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzte. Deshalb könnte er die Stelle, an der er sich der Leiche entledigt hatte, aus anderen als aus Gründen der Bequemlichkeit ausgesucht haben.
Nachdem Bosch das Psychogramm mit der Liste der sechsundvierzig potentiellen Täter verglichen hatte, blieben zwei Verdächtige übrig. Der wegen Brandstiftung und Erregung öffentlichen Ärgernisses vorbestrafte Hausmeister eines Bürogebäudes in Woodland Hills und ein Bühnenbildner, der in einem Filmstudio in Burbank arbeitete und als Jugendlicher wegen versuchter Vergewaltigung einer Nachbarin festgenommen worden war. Beide Männer waren Ende Zwanzig.
Bosch und Sheehan tippten auf den Hausmeister, weil er Zugang zu Reinigungsmitteln hatte, wie sie vermutlich zum Waschen der Leiche verwendet worden waren. McCaleb dagegen gefiel der Bühnenbildner besser, weil der Vergewaltigungsversuch in seiner Jugend auf eine starke Impulsivität hindeutete, die besser zum Täterprofil passte.
Bosch und Sheehan beschlossen, beide Männer formlos zu vernehmen. McCaleb, der sie begleitete, drang darauf, die Verdächtigen in ihren Wohnungen zu verhören, damit er Gelegenheit erhielte, sie in ihrer vertrauten Umgebung zu beobachten und sich ihre Wohnungseinrichtung auf mögliche Anhaltspunkte anzusehen.
Als Ersten nahmen sie sich den Bühnenbildner vor. Er hieß Victor Seguin. Er schien aus allen Wolken zu fallen, als die drei Männer plötzlich vor seiner Tür standen und Bosch ihm den Grund ihres Besuches erklärte. Während Bosch und Sheehan in aller Ruhe ihre Fragen stellten, saß McCaleb auf der Couch und studierte die ordentliche Wohnungseinrichtung. Keine fünf Minuten später wusste er, dass sie den Richtigen hatten. Er nickte Bosch zu – das vereinbarte Zeichen.
Sie machten Victor Seguin auf seine Rechte aufmerksam und verhafteten ihn. Nachdem sie ihn in ihren Wagen gebracht hatten, plombierten sie sein Häuschen in der Einflugschneise des Burbank Airport und fuhren los, um sich einen Durchsuchungsbefehl dafür ausstellen zu lassen. Als sie es zwei Stunden später mit einem Durchsuchungsbefehl wieder betraten, fanden sie in einem schalldichten, sargähnlichen Kriechkeller, den der Bühnenbildner unter einer unter seinem Bett verborgenen Falltür gebaut hatte, ein sechzehnjähriges Mädchen. Es war gefesselt und geknebelt, aber noch am Leben.
Erst als sich ihre erste Aufregung über die Lösung des Falls und die Rettung eines Menschenlebens zu legen begann, fragte Bosch schließlich McCaleb, woher er gewusst hatte, dass sie den Richtigen hatten. McCaleb führte den Detective zum Bücherregal im Wohnzimmer, wo er auf ein zerlesenes Buch mit dem Titel Der Sammler deutete, einen Roman über einen Mann, der ein junges Mädchen entführt und gefangen hält.
Seguin wurde des Mordes an dem nicht identifizierten Mädchen und der Entführung und Vergewaltigung der jungen Frau angeklagt, die die Ermittler gerettet hatten. Er leugnete jede Schuld an dem Mord und schlug der Anklage vor, sich der Entführung und der Vergewaltigung der überlebenden Frau schuldig zu bekennen, wenn sie dafür die Mordanklage fallen ließe. Die Staatsanwaltschaft lehnte diesen Handel jedoch ab und führte den Prozess mit dem ihr vorliegenden Beweismaterial fort – der schaudererregenden Aussage der geretteten Frau und dem Nummernschildabdruck auf der Hüfte des toten Mädchens.
Die Geschworenen brauchten weniger als vier Stunden Beratungszeit, um den Angeklagten in allen Punkten für schuldig zu befinden. Daraufhin schlug die Staatsanwaltschaft Seguin ihrerseits einen Handel vor: die Zusicherung, bei der Festlegung des Strafmaßes nicht auf die Todesstrafe zu plädieren, wenn der Mörder den Ermittlern verriete, wer sein erstes Opfer war und wo er es
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