Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
entführt hatte. Um auf diesen Handel eingehen zu können, hätte Seguin allerdings von seiner Unschuldsbehauptung abrücken müssen. Er lehnte ab. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Todesstrafe und erhielt sie. Bosch fand nie heraus, wer das tote Mädchen war, und wie McCaleb wusste, setzte es ihm schwer zu, dass offensichtlich niemandem so viel an dem Fall lag, um zu seiner Aufklärung beizutragen.
Auch McCaleb ging die Sache sehr nahe. Als er am Tag der Festlegung des Strafmaßes nach seiner Aussage vor Gericht mit Bosch zu Mittag aß, stellte er fest, dass auf Boschs Ordnern mit den Unterlagen zu dem Fall ein Name stand.
»Haben Sie sie denn identifiziert?«, fragte McCaleb aufgeregt.
Als Bosch den Blick senkte und den Namen auf den Ordnern sah, drehte er sie um.
»Nein, wir konnten sie noch nicht identifizieren.«
»Und was hat dann das da zu bedeuten?«
»Das ist einfach nur ein Name«, antwortete Bosch verlegen. »Ich habe ihr einfach einen Namen gegeben.«
McCaleb drehte die Ordner wieder um, um den Namen zu lesen.
»Cielo Azul?«
»Ja, weil sie eine Latina war, habe ich ihr einen spanischen Namen gegeben.«
»Das heißt doch Blauer Himmel, oder?«
»Ja, Blauer Himmel. Ich, äh …«
McCaleb wartete. Nichts.
»Was?«
»Na ja … ich bin nicht besonders religiös, wenn Sie wissen, was ich meine?«
»Ja.«
»Aber irgendwie dachte ich mir, wenn sich hier unten schon niemand für sie zuständig fühlt, dann gibt es hoffentlich … vielleicht da oben jemand, der das tut.«
Bosch hob die Schultern und sah weg. McCaleb entging nicht, dass sich sein Gesicht im oberen Wangenbereich rötete.
»Es ist schwer, in dem, womit wir beruflich zu tun haben, Gottes Handschrift zu erkennen. In dem, was wir zu sehen bekommen.«
Bosch nickte nur und sie sprachen nicht mehr über den Namen.
* * *
McCaleb hob die letzte Seite des Ordners mit der Aufschrift Cielo Azul an und sah auf das Fach auf der Innenseite des hinteren Aktendeckels. Beim FBI hatte er sich angewöhnt, sich an dieser Stelle Notizen zu machen, weil sie dort wegen der eingehefteten Seiten nicht sofort zu sehen waren. Es waren Notizen über die Ermittler, die ihm ihre Fälle vorlegten, damit er ihnen ein Täterprofil erstellte. McCaleb war zu der Überzeugung gelangt, dass manche Erkenntnisse über die Ermittler genau so wichtig waren wie die in der Akte enthaltenen Informationen. Viele Aspekte eines Verbrechens sah McCaleb nämlich zum ersten Mal durch die Augen des Ermittlers.
Der Fall, bei dem er mit Bosch zusammengearbeitet hatte, lag mehr als zehn Jahre zurück; damals war er noch nicht dazu übergegangen, nicht nur von den Tätern ein umfangreicheres Psychogramm anzufertigen, sondern auch von den Ermittlern. Deshalb hatte er in diesen Ordner nur Boschs Namen und darunter vier Punkte geschrie ben.
Gründlich – Clever – MB – RE
Er sah auf die zwei letzten Vermerke. Wenn er sich Notizen gemacht hatte, die nur für ihn bestimmt waren, hatte er Abkürzungen oder seine private Kürzelsprache verwendet. Die letzten zwei Eintragungen bezogen sich auf das, was Bosch seiner Meinung nach antrieb. Er war zu der Auffassung gelangt, dass Detectives des Morddezernats, die ohnehin eine Rasse für sich waren, von sehr starken und intensiven Emotionen und Motivationen zehrten, um die Kraft zu finden, ihrer schwierigen Tätigkeit nachgehen zu können. In der Regel gab es zwei Sorten von Detectives. Die einen betrachteten ihren Job als ein Handwerk oder etwas, wofür sie eine spezielle Begabung hatten, die anderen sahen darin eine Berufung. Vor zehn Jahren hatte er Bosch letzterer Kategorie zugeordnet. Er war ein Mann mit einer Berufung.
Danach wurde diese Motivation eines Detective noch weiter differenziert, und zwar in Hinblick darauf, worauf diese Zielstrebigkeit oder Berufung zurückzuführen war. Einige sahen ihre Tätigkeit fast als eine Art Spiel; sie hatten ein Unzulänglichkeitsgefühl, aufgrund dessen sie beweisen zu müssen glaubten, dass sie besser, schlauer und raffinierter waren als die Verbrecher, die sie jagten. Ihr Leben war ein nie endender Kreislauf der Selbstbestätigung, zu der sie sich letztlich dadurch verhalfen, dass sie die Mörder, die sie suchten, hinter Schloss und Riegel brachten. Bei anderen, die bis zu einem gewissen Grad ebenfalls von diesem tief sitzenden Unzulänglichkeitsgefühl geplagt wurden, kam noch eine zusätzliche Dimension hinzu: Sie sahen sich auch als Sprecher der Toten. Zwischen Opfer und Cop bestand
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