Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
eingesperrten Terroristen zu befreien.
In dem Moment, in dem sich die Tür zu schließen begann, fuhr ich mit der Hand durch die Lichtschranke, worauf die Tür langsam wieder aufging.
»Nur zu Ihrer Information, Agent Peoples. Auch meine Anwältin hat entsprechende Schritte unternommen, um sich und die Aufnahmen abzusichern. Falls ihr also etwas zustößt, läuft es auf dasselbe hinaus, wie wenn mir etwas passiert.«
»Machen Sie sich da mal keine Sorgen, Bosch. Ich werde weder gegen Ihre Anwältin noch Sie etwas unternehmen.«
»Es sind nicht unbedingt Sie, der mir Sorgen macht.«
Während wir uns gegenseitig fest in die Augen sahen, ging die Tür zu.
»Ich verstehe«, hörte ich ihn durch die Tür sagen.
29
Mein Tanz mit den federal's war nicht ganz so umsonst gewesen, wie ich Peoples hatte glauben lassen. Ja, meine Jagd nach dem kleinen Terroristen war vielleicht eine falsche Fährte gewesen, aber falsche Fährten gibt es bei jedem Fall. Das gehört einfach dazu. Was ich allerdings am Ende des Tages hatte, war eine vollständige Dokumentierung der Ermittlungen, und darüber war ich sehr froh. Jetzt hatte ich ein vollständiges Blatt – das Mordbuch – in der Hand, und deshalb konnte ich jetzt im Kopf all das abhaken, was in den letzten zwei Tagen passiert war und dazu geführt hatte, dass es in meinen Besitz gekommen war, einschließlich der Stunden, die ich in FBI-Gewahrsam verbracht hatte. Wenn ich nämlich Angella Bentons Mörder finden sollte, wäre die Lösung des Falls, oder zumindest der Schlüssel dazu, höchstwahrscheinlich irgendwo in diesem schwarzen Plastikordner zu finden.
Als ich von der FBI-Zentrale zurückkam, betrat ich mein Haus wie jemand, der glaubt, im Lotto gewonnen zu haben, aber die Gewinnzahlen sicherheitshalber noch einmal in der Zeitung nachsieht. Ich ging mit meiner Schachtel sofort zum Esszimmertisch und breitete ihren ganzen Inhalt darauf aus. Das A und O war das Mordbuch. Der Gral. Ich setzte mich und begann auf der ersten Seite zu lesen. Ich stand nicht auf, um mir Kaffee, Wasser oder Bier zu holen. Ich machte keine Musik an. Ich konzentrierte mich ganz auf die Seiten, die ich wendete. Gelegentlich machte ich mir auf meinem Block Notizen. Aber größtenteils las ich nur und nahm auf. Ich stieg zu Lawton Cross und Jack Dorsey ins Auto und fuhr mit ihnen durch ihre Ermittlungen.
Vier Stunden später schlug ich die letzte Seite des Ordners um. Ich hatte jedes Dokument gründlich gelesen und studiert. Nichts hatte mir als der Schlüssel in die Augen gestochen, als der nahe liegende Faden, den es aufzugreifen galt, aber ich war nicht entmutigt. Ich glaubte weiterhin, dass er dort drinnen war. Das war er immer. Ich musste nur von einer anderen Warte an die Sache herangehen.
Ein Punkt, der mir nach gründlicher Beschäftigung mit den dokumentierten Aspekten des Falls aufgefallen war, waren die Unterschiede in Cross' und Dorseys Persönlichkeit. Dorsey war gute zehn Jahre älter gewesen als Cross und hatte in ihrer Beziehung ein wenig die Funktion des väterlichen Mentors gehabt. Aber die Art, wie sie ihre Berichte abfassten und behandelten, zeigte für mich deutliche Persönlichkeitsunterschiede. Cross' Ausführungen waren anschaulich und deutend. Dorseys waren das genaue Gegenteil. Ließ sich ein Verhör oder Laborbefund in drei Wörtern zusammenfassen, beließ er es bei diesen drei Wörtern. Cross neigte dazu, die drei Wörter zu schreiben und dann zehn Sätze nachzuschieben, in denen er erklärte, was der Laborbefund oder das Verhalten des Zeugen bedeuteten. Mir war Cross' Stil lieber. Meine Philosophie war immer gewesen, alles ins Buch zu schreiben. Denn manchmal ziehen sich Fälle Monate oder sogar Jahre hin, und Nuancen können mit der Zeit verloren gehen, wenn sie nicht in die Berichte einfließen.
Diese Unterschiedlichkeit verleitete mich auch zu der Annahme, dass sich die zwei Partner möglicherweise nicht besonders nahe gestanden hatten. Inzwischen waren sie sich allerdings nahe, in der Polizeimythologie als die Pechvögel schlechthin unauflöslich miteinander verbunden. Aber vielleicht wäre im alles entscheidenden Moment in dieser Bar alles anders gekommen, wenn sie sich nahe gestanden hätten.
Der Gedanke daran, was hätte sein können, erinnerte mich daran, wie Danny Cross ihrem Mann vorgesungen hatte. Deshalb stand ich schließlich doch auf und ging zum CD-Player und legte eine CD mit Stücken von Louis Armstrong ein. Sie war in der Jazz-Dokumentationsreihe
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