Harry Bosch 15 - Neun Drachen
ein verhängnisvoller Fehler gewesen sein, dem weißen Mercedes nicht zu folgen. Doch dann tippte ihm Sun auf die Schulter und deutete auf das Boot mit dem hohen Kran, das am Ende des Piers lag.
Suns Finger war nach oben gerichtet, und Boschs Blick folgte ihm zu dem Kran. Die Plattform mit seinem stählernen Arm saß auf zwei Schienen, die etwa fünf Meter über dem Deck verliefen. So ließ sich der Kran, je nachdem, welches Schiff beladen werden sollte, über die gesamte Länge des Boots verschieben. Offensichtlich war es dafür gedacht, aufs offene Meer hinauszufahren und die kleineren Fangboote zu entladen, damit diese dort weiter auf Fischfang gehen konnten. Bedient wurde der Kran von einer auf der Plattform angebrachten Kabine, die den Kranführer auf hoher See vor Wind und Wetter schützte.
Sun deutete auf die getönten Scheiben der Kabine. Im Gegenlicht konnte Bosch die Umrisse eines Mannes darin erkennen.
Bosch zog sich mit Sun hinter die Ecke des Lagerhauses zurück.
»Hier muss es sein.« Boschs Stimme war gepresst vor Anspannung. »Glauben Sie, er hat uns gesehen?«
»Nein. Er hat keine auffällige Reaktion gezeigt.«
Bosch nickte und überlegte. Inzwischen war er fest überzeugt, dass sich seine Tochter auf diesem Boot befand. Aber wie an Bord kommen, ohne dass sie der Mann im Ausguck entdeckte? Sie konnten warten, bis er seinen Posten verließ, um sich etwas zu essen zu holen oder auf die Toilette zu gehen oder sich ablösen zu lassen. Allerdings ließ sich nicht absehen, wann es, wenn überhaupt, dazu käme. Zudem widerstrebte es Bosch zutiefst, in dieser Situation lediglich zu warten.
Er sah auf die Uhr. Fast sechs. Noch mindestens zwei Stunden, bis es vollkommen dunkel wurde. Eine Möglichkeit war, so lange zu warten, um erst im Schutz der Nacht etwas zu unternehmen. Aber diese zwei Stunden konnten sich als zu lang erweisen. Die SMS -Nachrichten hatten die Entführer seiner Tochter gewarnt. Sie konnten sie jeden Moment anderswohin bringen oder sonst etwas mit ihr tun.
Wie um diese Befürchtung zu unterstreichen, drang vom Ende des Piers plötzlich das tiefe Brummen eines Bootsmotors zu ihnen herüber. Bosch spähte um die Ecke des Lagerhauses und sah Auspuffgase vom Heck des Boots mit dem Kran aufsteigen. Außerdem war jetzt zu erkennen, dass sich hinter den Fenstern des Ruderhauses jemand bewegte.
Er zog sich wieder zurück.
»Vielleicht haben sie uns doch gesehen. Sie machen sich bereit zum Ablegen.«
»Wie viel Personen haben Sie gesehen?«, fragte Sun.
»Mindestens einen im Ruderhaus, und einer ist noch oben in der Krankabine. Wir müssen etwas tun. Sofort.«
Wie um das zu unterstreichen, fasste Bosch an seinen Rücken und zog die Pistole. Er war versucht, seine Deckung zu verlassen und feuernd den Anleger hinunterzustürmen. Er hatte eine geladene 45er und schätzte seine Chancen nicht schlecht ein. Sie hatten damals in Vietnam, in den unterirdischen Gängen nicht wenige Male schon schlechter gestanden. Acht Kugeln, acht Drachen. Und dann war da noch er selbst. Er war der neunte Drache, so unaufhaltsam wie eine Kugel.
»Und was jetzt?«, fragte Sun.
»Ganz einfach. Ich versuche, an Bord zu kommen, und befreie sie. Sollte ich es nicht schaffen, sehe ich zu, dass auch keiner von denen überlebt. Dann gehen Sie an Bord und befreien Maddie und setzen sie ins nächste Flugzeug, weit weg von hier. Ihr Pass ist im Kofferraum. Das ist mein ganzer Plan.«
Sun schüttelte den Kopf.
»Warten Sie. Diese Männer sind sicher bewaffnet. Das ist kein guter Plan.«
»Haben Sie vielleicht eine bessere Idee? Wir können nicht warten, bis es dunkel wird. Das Boot legt jeden Moment ab.«
Bosch schob sich wieder ein Stück nach vorn und spähte um die Ecke. Noch war alles beim Alten. Der Wächter saß in der Krankabine, eine zweite Person hielt sich im Ruderhaus auf. Der Bootsmotor brummte im Leerlauf, das Boot war weiterhin am Ende des Piers vertäut. Fast war es, als warteten sie auf etwas. Oder jemanden.
Bosch zog sich wieder zurück und versuchte, Ruhe zu bewahren. Dann blickte er sich aufmerksam nach etwas um, was er sich für sein Vorhaben zunutze machen könnte. Vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit als ein Selbstmordkommando. Er sah Sun an.
»Wir brauchen ein Boot.«
»Ein Boot?«
»Ja, ein kleines Boot. Wenn wir über den Anleger laufen, sehen sie uns sofort. Sie behalten ihn sicher scharf im Auge. Aber mit einem kleinen Boot könnte sie einer von uns von der anderen Seite so
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