Harry Bosch 15 - Neun Drachen
sorgen.
»Eine typische
Chin
derella«, bemerkte Chu dazu. »Bleibt zu Hause und kocht und putzt und führt den Haushalt. Fast wie eine Dienerin ihrer Eltern.«
»Wollen sie denn nicht, dass sie heiratet und aus dem Haus geht?«
»Nein. Sie ist eine kostenlose Arbeitskraft für sie. Welches Interesse sollten die Eltern daran haben, dass sie heiratet? Dann müssten sie ein Hausmädchen und einen Koch und einen Chauffeur anstellen. So haben sie alles in einer Person, ohne dass es sie etwas kostet.«
Darauf fuhr Bosch eine Weile schweigend weiter und dachte über das Leben nach, das Mia-ling Li führte. Er bezweifelte, dass sich mit dem Tod ihres Vaters etwas für sie ändern würde. Da war immer noch ihre Mutter, um die sie sich kümmern musste.
Ihm fiel etwas ein, was den Fall betraf, und er begann wieder zu sprechen.
»Sie meinte, die Familie würde den Getränkemarkt jetzt wahrscheinlich aufgeben und nur das Geschäft im Valley behalten.«
»Gewinn haben sie damit sowieso keinen mehr gemacht«, sagte Chu. »Vielleicht können sie ihn an andere Chinesen verkaufen und bekommen so noch etwas Geld dafür.«
»Nicht gerade viel für dreißig Jahre in diesem Viertel.«
»Die Geschichte der chinesischen Einwanderer ist nicht immer eine glückliche«, sagte Chu.
»Wie ist das bei Ihnen, Chu? Ist es bei Ihnen eine Erfolgsstory?«
»Ich bin kein Einwanderer. Meine Eltern waren welche.«
»Waren?«
»Meine Mutter ist jung gestorben. Mein Vater war Fischer. Eines Tages lief sein Boot aus und kam nicht mehr zurück.«
Die Nüchternheit, mit der Chu seine Familientragödie erzählte, ließ Bosch verstummen. Er konzentrierte sich aufs Fahren. Es herrschte dichter Verkehr, und sie brauchten fünfundvierzig Minuten, um nach Sherman Oaks zu kommen. Fortune Fine Foods & Liquor befand sich im Sepulveda Boulevard, nur eine Straße südlich vom Ventura Boulevard. Damit befand sich das Geschäft in einer exklusiven Gegend mit teuren Miet- und Eigentumswohnungen direkt unterhalb der noch hochpreisigeren Villen, die sich den Hang hinaufzogen. Die Lage war gut, aber es schien nicht genügend Parkmöglichkeiten zu geben. Bosch fand am Straßenrand neben einem Hydranten eine freie Lücke. Er klappte die Sonnenblende nach unten, so dass das an ihrer Rückseite befestigte Schild zu sehen war, das das Auto als Dienstfahrzeug auswies, und stieg aus.
Während der langen Fahrt hatten Bosch und Chu einen Plan ausgearbeitet. Wenn außer dem Opfer jemand etwas von den Schutzgeldzahlungen an die Triade wusste, dann am ehesten dessen Sohn Robert, der ebenfalls ein Geschäft führte. Die Frage war allerdings, warum er den Detectives am Tag zuvor nichts davon erzählt hatte.
Fortune Fine Foods & Liquor war nicht mit seinem Gegenstück in South L.A. zu vergleichen. Das Geschäft war mindestens fünfmal so groß, und entsprechend seinem Einzugsgebiet war das Warenangebot hochwertig und teuer.
Es gab eine Kaffeebar zur Selbstbedienung. Zwischen den Weinregalen hingen Schilder mit Angaben zu Sorte und Anbaugebiet, und man suchte vergeblich nach den Kanistern mit Billigwein. Die Kühlregale waren gut beleuchtet und zwecks besserer Zugänglichkeit nicht mit Glastüren versehen. Es gab Spezialitäten- und Feinkostabteilungen sowie Warm- und Kalttheken, an denen die Kunden frisch zubereitete Steaks und Fischgerichte oder vorgekochte Gerichte wie Grillhähnchen, Hackbraten und Spareribs erhielten. Der Sohn war in das Geschäft des Vaters eingestiegen und hatte es auf ein deutlich höheres Niveau gehoben. Bosch war beeindruckt.
Es gab zwei Kassen, und Chu erkundigte sich bei einer der Kassiererinnen nach Robert Li. Die Frau deutete auf eine Flügeltür, die in ein Lager mit drei Meter hohen Regalen führte. Auf der linken Seite war eine Tür mit der Aufschrift BÜRO . Bosch klopfte, und prompt wurde ihnen von Robert Li geöffnet.
Er schien überrascht, sie zu sehen.
»Kommen Sie rein«, forderte er die zwei Detectives auf. »Tut mir leid, dass ich es heute nicht in die Stadt geschafft habe. Mein Vertreter hat sich krankgemeldet, und ich kann das Geschäft nicht unbeaufsichtigt lassen. Entschuldigen Sie bitte vielmals.«
»Schon gut«, sagte Bosch. »Wir versuchen ja nur, den Mörder Ihres Vaters zu finden.«
Bosch wollte den jungen Mann verunsichern, denn der Umstand, dass er in seiner gewohnten Umgebung vernommen wurde, brachte für Li einen gewissen Vorteil mit sich. Bosch erzeugte ganz bewusst eine feindselige Grundstimmung. Verunsichert
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