Harry Bosch 15 - Neun Drachen
nicht über die Arbeit.«
»Lebte er gern in Los Angeles?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Warum nicht?«
»Er wollte nach China zurück, aber das ging nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil man nicht zurückkann, wenn man einmal weggegangen ist. Sie haben China verlassen, weil Robert unterwegs war.«
»Heißt das, Ihre Familie hat China wegen Robert verlassen?«
»In unserer Provinz durfte jede Familie nur ein Kind haben. Sie hatten bereits mich, und in ein Waisenheim wollte mich meine Mutter nicht geben. Mein Vater wollte einen Sohn, und als meine Mutter schwanger wurde, wanderten wir nach Amerika aus.«
Bosch wusste nichts über die Einzelheiten der chinesischen Ein-Kind-Politik, aber er hatte davon gehört. Diese Maßnahme zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums hatte zur Folge, dass männliche Nachkommen wesentlich begehrter waren. Neugeborene Mädchen wurden deshalb oft in Waisenheime abgeschoben oder Schlimmeres. Statt Mia wegzugeben, war die Familie Li in die USA ausgewandert.
»Dann wäre Ihr Vater also grundsätzlich lieber in China geblieben?«
»Ja.«
Bosch fand, dass er diesbezüglich genügend Informationen gesammelt hatte. Er öffnete den Ordner und nahm den Ausdruck des Videostandbilds aus dem Getränkemarkt heraus. Er legte ihn vor Mia auf den Tisch.
»Wer ist das, Mia?«
Sie kniff die Augen zusammen, als sie das körnige Bild betrachtete.
»Ich habe diesen Mann nie gesehen. Hat er meinen Vater umgebracht?«
»Das weiß ich nicht. Und Sie sind sicher, dass Sie den Mann nicht kennen?«
»Ja, ganz sicher. Wer ist das?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber wir werden es herausfinden. Hat Ihr Vater jemals über die Triaden gesprochen?«
»Über die Triaden?«
»Dass er ihnen Geld zahlen musste?«
Die Frage schien sie sehr nervös zu machen.
»Davon weiß ich nichts. Über so etwas haben wir nicht gesprochen.«
»Sie sprechen doch Chinesisch, oder?«
»Ja.«
»Haben Sie je mitbekommen, dass Ihre Eltern sich darüber unterhalten haben?«
»Nein, über so etwas haben sie nie gesprochen. Darüber weiß ich nichts.«
»Okay, Mia, dann können wir jetzt Schluss machen.«
»Kann ich meine Mutter schon nach Hause bringen?«
»Sobald Detective Chu mit ihr fertig ist. Was, glauben Sie, wird jetzt aus dem Getränkemarkt? Werden ihn Ihre Mutter und Ihr Bruder weiterführen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, sie werden ihn aufgeben. Meine Mutter wird jetzt im Geschäft meines Bruders arbeiten.«
»Und Sie, Mia? Wird sich für Sie etwas ändern?«
Sie dachte relativ lange nach, als ob sie sich darüber bis zu diesem Moment noch keine Gedanken gemacht hätte.
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie schließlich. »Vielleicht.«
8
A ls Bosch in den Bereitschaftsraum zurückkam, hatte Mrs. Li ihr Gespräch mit Chu bereits beendet und wartete auf ihre Tochter. Robert Li war immer noch nicht aufgetaucht, und Ferras sagte, er habe angerufen und sich entschuldigt, dass er nicht kommen könne, weil sich der stellvertretende Geschäftsführer krankgemeldet habe.
Nachdem er die zwei Frauen zum Lift begleitet hatte, entschied Bosch nach einem Blick auf die Uhr, dass er genügend Zeit hätte, um ins Valley zu fahren, mit dem Sohn des Opfers zu sprechen und zur Obduktion um vierzehn Uhr rechtzeitig wieder in die Stadt zurückzukommen. Außerdem musste er bei der Autopsie nicht von Anfang an dabei sein. Er konnte auch später dazustoßen.
Sie beschlossen, dass Ferras vor Ort bliebe, um mit der Spurensicherung die Ergebnisse der Analyse der am Vortag sichergestellten Beweise auszuwerten, während Bosch mit Chu ins Valley fahren würde, um mit Robert Li zu sprechen.
Bosch nahm seinen Crown Vic, der schon zweihundertzwanzigtausend Meilen auf dem Tacho hatte. Die Klimaanlage funktionierte, aber gerade mal so. Als es nicht mehr weit bis ins Valley war, begann die Temperatur zu steigen, und Bosch bereute, dass er sein Sakko nicht ausgezogen hatte, bevor er eingestiegen war.
Es war Chu, der das Schweigen im Auto schließlich als Erster brach und Bosch berichtete, dass Mrs. Li ihre Aussage unterschrieben und ihr nichts Neues hinzuzufügen gehabt hatte. Sie hatte den Mann auf dem Video aus dem Laden nicht gekannt und behauptet, nichts von irgendwelchen Schutzgeldzahlungen an eine Triade zu wissen. Dann gab Bosch das Wenige wieder, was er von Mia-ling Li erfahren hatte, und fragte Chu, was er über die Tradition wüsste, dass eine erwachsene Tochter im Haus der Eltern blieb, um für sie zu
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