Harry Bosch 15 - Neun Drachen
wäre Li den Ermittlern gegenüber zuvorkommender und hilfsbereiter.
»Wie gesagt, es tut mir wirklich leid. Allerdings dachte ich auch, ich bräuchte nur noch meine Aussage unterschreiben.«
»Ihre Aussage haben wir, aber es ist keineswegs damit getan, irgendwelche Papiere zu unterzeichnen, Mr. Li. Das ist ein laufendes Ermittlungsverfahren. Da tut sich ständig was. Wir erhalten immer wieder neue Informationen.«
»Ich kann mich nur noch mal entschuldigen. Setzen Sie sich bitte. Tut mir leid, dass wir hier nicht mehr Platz haben.«
Das Büro war schmal, und Bosch sah, dass es ein Gemeinschaftsbüro war. An der rechten Seitenwand standen zwei Schreibtische nebeneinander. Es gab zwei Schreibtischstühle und zwei Klappstühle, wahrscheinlich für Vertreterbesuche und Bewerbungsgespräche.
Li griff nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch, wählte eine Nummer und sagte in den Hörer, er wolle nicht gestört werden. Dann breitete er die Arme aus. Er war bereit.
»Zuallererst, ich muss sagen, es überrascht mich etwas, dass Sie heute arbeiten«, begann Bosch. »Ihr Vater wurde gestern ermordet.«
Li nickte ernst.
»Leider habe ich nicht die Zeit, um meinen Vater zu trauern. Ich muss das Geschäft führen, denn sonst gibt es schon bald kein Geschäft mehr.«
Bosch nickte und bedeutete Chu, zu übernehmen. Chu hatte Lis schriftliche Aussage vor sich liegen, und während er das Schriftstück mit Li durchging, sah sich Bosch im Büro um. An der Wand hinter den Schreibtischen hingen gerahmte behördliche Lizenzen, Lis BWL -Abschlussdiplom der University of Southern California aus dem Jahr 2004 und eine Auszeichnung der American Grocers Association als bestes neues Lebensmittelgeschäft des Jahres 2007. Es gab auch gerahmte Fotos von Li mit Tommy Lasorda, dem ehemaligen Manager der Dodgers, und von einem jugendlichen Robert auf der Treppe des Tian Tan Buddha in Hongkong. Genauso, wie er Lasorda erkannt hatte, erkannte Bosch auch die dreißig Meter hohe Bronzestatue, die unter dem Namen Big Buddha bekannt war. Er war mit seiner Tochter einmal nach Lantau Island gefahren, um sie zu besichtigen.
Das USC -Diplom hing leicht schief, und als Bosch die Hand ausstreckte, um es gerade zu rücken, stellte er fest, dass Li seinen Abschluss
cum laude
gemacht hatte. Ihm ging kurz durch den Kopf, dass Robert Li die Gelegenheit erhalten hatte, die Universität zu besuchen und anschließend das väterliche Geschäft zu übernehmen und etwas Besseres und Größeres daraus zu machen. Umgekehrt hatte seine ältere Schwester ihr Studium abbrechen müssen, um wieder nach Hause zurückzukehren und dort die Betten zu machen.
Li hatte an seiner Aussage nichts zu berichtigen und setzte unter jede Seite seine Unterschrift. Als er damit fertig war, blickte er zu der Wanduhr über der Tür auf, und Bosch merkte, dass er glaubte, sie seien fertig.
Aber das waren sie nicht. Jetzt war Bosch an der Reihe. Er holte einen Ordner aus seiner Aktentasche und nahm das Bild des Mannes heraus, der von Lis Vater Schutzgeld kassiert hatte. Bosch reichte Li den Ausdruck.
»Was können Sie mir über diesen Mann sagen?«
Li nahm das Bild in beide Hände und betrachtete es stirnrunzelnd. Bosch wusste, dass das die Leute immer dann taten, wenn sie den Anschein erwecken wollten, dass sie angestrengt nachdachten. Aber in der Regel versuchten sie damit etwas anderes zu kaschieren. Bosch wusste, dass Li aller Wahrscheinlichkeit nach in der letzten Stunde einen Anruf von seiner Mutter erhalten hatte und deshalb bereits wusste, dass er das Bild vermutlich vorgelegt bekäme. Egal, was Li ihm also gleich antworten würde, wusste Bosch jetzt schon, dass es nicht die Wahrheit wäre.
»Leider gar nichts«, antwortete Li nach ein paar Sekunden. »Ich kenne diesen Mann nicht. Nie gesehen.«
Er hielt Bosch den Ausdruck entgegen, aber Bosch nahm ihn nicht.
»Aber Sie wissen, wer er ist.«
Das war eigentlich keine Frage.
»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Li mit einem Anflug von Ärger in der Stimme.
Bosch lächelte, aber in seinem Lächeln war keine Wärme und kein Humor.
»Mr. Li, hat Ihre Mutter Sie angerufen und Ihnen gesagt, dass wir Ihnen dieses Foto zeigen werden?«
»Nein.«
»Wir können die Anrufe überprüfen, das wissen Sie doch.«
»Und wenn schon. Sie weiß nicht, wer er ist, und ich auch nicht.«
»Sie wollen doch, dass wir die Person finden, die Ihren Vater ermordet hat, oder?«
»Natürlich! Was soll das für eine Frage sein?«
»Es ist
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