Harry Bosch 15 - Neun Drachen
ja?«
»Nächstes Mal kriegst du eine Leber. Oder vielleicht auch eine Milz. So eine Milz macht mords was her.«
»Daaaadd!«
Er klappte das Handy zu und rekapitulierte den Inhalt des Gesprächs. Die Wochen und Monate zwischen seinen Besuchen bei Maddie schienen immer schwieriger für ihn zu werden. Je mehr sie sich zu einer eigenständigen Persönlichkeit entwickelte und je verständiger und mitteilsamer sie wurde, desto mehr liebte er sie, und sie fehlte ihm die ganze Zeit. Sie war erst im Juli in L.A. gewesen und war die weite Strecke zum ersten Mal ganz allein geflogen. Noch kaum ein Teenager und bereits eine Weltreisende, war sie für ihr Alter erstaunlich reif. Er hatte Urlaub genommen, und sie hatten zwei Wochen lang viel miteinander gemacht und die Stadt erkundet. Er hatte die Zeit mit ihr sehr genossen, und am Ende hatte sie zum ersten Mal durchblicken lassen, dass sie sich vorstellen könnte, in Los Angeles zu leben. Bei ihm.
Bosch war selbstverständlich bewusst, dass sie diesen Wunsch nach zwei Wochen Vollzeitbetreuung durch einen Vater geäußert hatte, der sie jeden Morgen als Erstes gefragt hatte, was sie gern tun wollte. Das war etwas völlig anderes als die Vollzeitverantwortung ihrer Mutter, die sich Tag für Tag um sie kümmern und gleichzeitig für ihrer beider Lebensunterhalt aufkommen musste. Trotzdem war der schwerste Tag, den Bosch als Teilzeitvater jemals gehabt hatte, der Tag gewesen, an dem er seine Tochter zum Flughafen gebracht und in das Flugzeug gesetzt hatte, in dem sie allein nach Hause flog. Halb erwartete er, dass sie sich strikt weigern würde, aber dann stieg sie unter Protesten doch ein, und weg war sie. Seitdem spürte er eine tiefe Leere in seinem Innern.
Seine nächste Urlaubsreise nach Hongkong stand erst in einem Monat an, und er wusste, die Zeit bis dahin würde lang und schwer für ihn.
»Harry, was machst du denn hier draußen?«
Bosch drehte sich um. Sein Partner, Ferras, war gerade aus dem Bereitschaftsraum gekommen; wahrscheinlich wollte er auf die Toilette.
»Ich habe gerade mit meiner Tochter telefoniert. Da wollte ich nicht gestört werden.«
»Geht’s ihr gut?«
»Ja, ja, alles bestens. Ich komme gleich wieder rein.«
Bosch steckte das Handy in seine Tasche zurück und ging auf die Tür zu.
11
E s war acht Uhr abends, als Bosch nach Hause kam. Er hatte eine Tüte mit Essen dabei, das er sich aus dem In-N-Out am Cahuenga Boulevard mitgenommen hatte.
Mit Schlüssel, Tüte und Aktentasche kämpfend, schloss er die Tür auf und rief: »Hallo, Schatz, ich bin’s.«
Er ging grinsend in die Küche, stellte die Aktentasche auf die Theke und holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Dann machte er die Anlage an und ging auf die Terrasse hinaus. Damit sich die Musik mit dem Rauschen des Freeway 101 unten am Pass mischen konnte, ließ er die Schiebetür weit offen.
Der Blick von der Terrasse reichte über Universal City und Burbank bis zu den San Gabriel Mountains im Nordosten. Um nichts auf den Boden tropfen zu lassen, aß Bosch seine zwei Hamburger über die offene Tüte gebeugt. Dabei beobachtete er, wie die untergehende Sonne die Farben der Berghänge veränderte, und hörte »Seven Steps to Heaven« aus dem Ron-Carter-Album
Dear Miles.
Carter war einer der bedeutendsten Bassisten der letzten fünfzig Jahre. Er hatte mit allen Jazzgrößen gespielt, und Bosch fragte sich oft, was er alles für Geschichten zu erzählen hätte über die Sessions, an denen er teilgenommen hatte, und über die Musiker, die er kannte. Ob auf seinen eigenen Aufnahmen oder auf denen anderer, Carters Spiel war immer unverkennbar. Bosch führte das darauf zurück, dass er sich als Bassist nie mit der Rolle des Sideman zufriedengegeben hatte. Er war immer das Fundament. Immer bestimmte er den Beat, selbst wenn es zu Miles Davis’ Trompete war.
Die Nummer, die gerade lief, hatte ungeheuren Drive. Wie eine Autoverfolgungsjagd. Unwillkürlich musste Bosch an seine eigene Jagd denken und an die Fortschritte, die im Lauf des Tages gemacht worden waren. Mit seinem eigenen Drive war er zufrieden. Nicht wohl war ihm dagegen bei dem Gedanken, dass das Ermittlungsverfahren inzwischen einen Punkt erreicht hatte, an dem er auf die Arbeit anderer angewiesen war. Er musste warten, dass andere den Geldeintreiber der Triade identifizierten. Er musste warten, dass andere entschieden, ob die Patronenhülse als Testfall für das neue Fingerabdruckverfahren geeignet wäre. Er musste
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