Harry Bosch 15 - Neun Drachen
miteinander, aber Bosch hatte immer noch das Gefühl, nicht mit der Tür ins Haus fallen zu dürfen, sondern ihr sein Anliegen schonend beibringen zu müssen.
»Was ist Sache, Harry?«
So begrüßte sie Bosch immer.
»Sache ist: Gestern wurde uns unten in South L.A. einen Fall aufgedrückt, und heute haben wir eine Patronenhülse aus der Tatwaffe sichergestellt.«
Bosch hob die Hand und hielt ihr die Beweismitteltüte mit der Hülse hin. Sopp nahm sie, hielt sie hoch und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen durch das Plastik.
»Abgefeuert?«
»Ja. Ich weiß, es ist sehr unwahrscheinlich, aber vielleicht ist ja noch ein Fingerabdruck drauf. Sonst habe ich im Moment nicht viel, worauf ich mich stützen könnte.«
»Na, dann wollen wir mal sehen. Normalerweise müssten Sie warten, bis Sie an der Reihe sind, aber da wir beide schon fünf Polizeichefs überlebt haben …«
»Nur deswegen komme ich zu Ihnen, Teri.«
Sopp setzte sich an einen Untersuchungstisch und nahm die Hülse wie kurz zuvor Malone mit einer Pinzette aus der Beweismitteltüte. Zuerst bestäubte sie sie mit Cyanoacrylat, dann hielt sie sie unter eine UV -Lampe. Bosch schaute ihr über die Schulter und sah die Antwort, bevor Sopp sie aussprach.
»Hier haben wir einen verwischten Abdruck. Sieht so aus, als hätte sie jemand angefasst, nachdem sie abgefeuert wurde. Aber das ist alles.«
»Mist.«
Bosch nahm an, dass der verwischte Fingerabdruck davon herrührte, dass John Li nach der Hülse gegriffen und sie sich in den Mund gesteckt hatte.
»Tja, Harry, tut mir leid.«
Bosch ließ die Schultern hängen. Er wusste, die Wahrscheinlichkeit war gering, wenn nicht sogar gleich null, aber er hoffte, Sopp vermitteln zu können, wie sehr er darauf gezählt hatte, einen Fingerabdruck zu erhalten.
Sopp machte sich daran, die Patronenhülse in die Tüte zurückzustecken.
»Haben die Leute von der Ballistik die Hülse schon angesehen?«
»Ja, von dort komme ich gerade.«
Sie nickte. Bosch konnte sehen, dass sie nachdachte.
»Erzählen Sie mir was über den Fall, Harry. Was sind die Parameter?«
Bosch schilderte ihr kurz die Tat, ohne allerdings den Verdächtigen zu erwähnen, den sie auf dem Überwachungsvideo entdeckt hatten. Er stellte es so dar, als wären die Ermittlungen fast aussichtslos. Keine Beweise, kein Verdächtiger, kein Motiv außer einem simplen Raubüberfall.
Niente, nada, nichts.
»Na ja, eines könnten wir vielleicht noch versuchen«, sagte Sopp.
»Ja?«
»Wir wollen bis zum Monatsende eine Bekanntmachung rausgeben. Wir testen nämlich gerade ein neues Verfahren, das sich elektrostatische Verstärkung nennt. Und dieser Fall ließe sich unter Umständen dazu heranziehen, dessen Praktikabilität zu demonstrieren.«
»Elektrostatische Verstärkung? Was soll das denn sein?«
Sopp grinste wie ein kleines Mädchen, das als Einzige noch Süßigkeiten übrig hatte.
»Mit Hilfe dieses Verfahrens, das von der englischen Polizei in Northamptonshire entwickelt wurde, lassen sich auf Messingoberflächen, also zum Beispiel auf Patronenhülsen, Fingerabdrücke wieder sichtbar machen.«
Bosch blickte sich um und entdeckte an einem der anderen Arbeitsplätze einen Hocker. Er zog ihn heran und setzte sich.
»Und wie funktioniert das genau?«
»Sie müssen sich das etwa so vorstellen: Einen Revolver oder das Magazin einer Automatik mit Patronen zu laden erfordert im wahrsten Sinn des Wortes ein gewisses Fingerspitzengefühl. Man nimmt dazu jede Kugel einzeln in die Hand und schiebt sie in die dafür vorgesehene Öffnung. Und man muss dabei Druck auf sie ausüben. Also optimale Voraussetzungen, um einen Fingerabdruck zu hinterlassen.«
»Bis die Waffe abgefeuert wird.«
»Richtig. Ein Fingerabdruck ist im Prinzip eine Ablagerung des Schweißes, der sich in den Vertiefungen des Fingerabdrucks sammelt. Das Problem ist nun folgendes: Wenn mit einer Waffe ein Schuss abgegeben und danach die Patronenhülse ausgeworfen wird, löst sich der Fingerabdruck bei der Explosion normalerweise auf. Es kommt äußerst selten vor, dass man auf einer benutzten Hülse einen Fingerabdruck findet, außer er stammt von der Person, die sie hinterher vom Boden aufgehoben hat.«
»Das weiß ich alles«, sagte Bosch. »Erzählen Sie mir etwas, was ich nicht weiß.«
»Geduld, Geduld. Am besten funktioniert dieses Verfahren, wenn die Waffe nicht unmittelbar nach dem Laden abgefeuert wurde. Anders ausgedrückt, damit das Verfahren funktioniert, sollte die
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