Harry Bosch 15 - Neun Drachen
vernünftige Ermittlungen zu führen, wenn der eigene Partner in Panik geriet, wenn er sich mehr als zwei Meter von seinem Schreibtisch entfernen sollte.
Die Garfield Avenue war eine in nordsüdlicher Richtung verlaufende Durchgangsstraße, die Bosch einen guten Eindruck vom speziellen Charakter Monterey Parks vermittelte. Das Geschäftsviertel der Stadt hätte ohne weiteres als ein Teil Hongkongs durchgehen können. Die Neonreklamen, die Farben, die Geschäfte und die Schriftzeichen auf den Schildern, alles war auf eine chinesischsprechende Bevölkerung zugeschnitten. Das Einzige, was fehlte, waren hohe Wolkenkratzer. Hongkong war eine in die Höhe strebende Stadt. Monterey Park nicht.
Als Bosch links in die Garvey Avenue bog, holte er sein Handy heraus und rief Chu an.
»Ich bin jetzt in der Garvey. Wo sind Sie?«
»Fahren Sie einfach immer weiter, bis Sie auf der rechten Seite einen großen Supermarkt sehen. Wir stehen auf dem Parkplatz. Der Club liegt ein Stück davor auf der linken Seite.«
»Alles klar.«
Er steckte das Handy weg und ließ beim Fahren den Blick über die Neonreklamen auf der linken Straßenseite wandern. Schon nach kurzem sah er über der Tür eines kleinen Clubs, auf der sonst nichts stand, eine rote
88
leuchten. Sobald er die Zahl tatsächlich vor sich sah und nicht nur von Chu ausgesprochen hörte, wurde ihm sofort klar, dass es sich dabei nicht um die Hausnummer des Clubs handelte, sondern um eine Glück verheißende Zahl. Von den Erzählungen seiner Tochter und seinen zahlreichen Besuchen in Hongkong wusste er, dass die Acht in der chinesischen Kultur eine Glückszahl war. Die Ziffer symbolisierte Unendlichkeit – Unendlichkeit von Glück, Liebe, Geld oder was man sich sonst im Leben wünschte. Anscheinend erhofften sich die Mitglieder der Triade Yung Kim doppelte Unendlichkeit, wenn sie
88
über ihre Tür schrieben.
Im Vorbeifahren konnte Bosch Licht hinter dem Fenster des Clubs brennen sehen. Da die Lamellen der Jalousie leicht aufgestellt waren, konnte er etwa zehn Männer erkennen, die um einen Tisch saßen oder standen. Er fuhr drei Blocks weiter und bog auf den Parkplatz des Big Lau Super Market. Am hinteren Ende stand ein Crown Victoria. Der Wagen sah zu neu aus, um vom LAPD zu sein, und Bosch vermutete, dass Chu mit den Männern vom Monterey Park Police Department mitgefahren war. Er parkte in der Lücke daneben.
Alle ließen ihre Fenster herunter, und Chu, der auf dem Rücksitz saß, machte Bosch mit den Kollegen aus Monterey Park bekannt. Herrera saß am Steuer, Tao auf dem Beifahrersitz. Keiner der beiden war auch nur annähernd dreißig, aber das war zu erwarten gewesen. Die kleinen Polizeibehörden in den Vorstädten von Los Angeles dienten als Personalzulieferer des LAPD . Die Cops verpflichteten sich jung zum Polizeidienst, sammelten ein paar Jahre Erfahrungen und bewarben sich dann beim LAPD oder dem L.A. County Sheriffs Department, wo der Dienst angeblich aufregender und spannender war, nicht zu reden von dem Biss, zu dem einem das Mehr an Berufspraxis verhalf.
»Waren Sie es, der Chang identifiziert hat?«, fragte Bosch Tao.
»Ja«, antwortete der. »Ich habe ihn vor sechs Monaten im Zuge einer Routineüberprüfung angehalten, und als Davy mit dem Foto ankam, habe ich mich sofort an ihn erinnert.«
»Wo war das?«
Während Tao sprach, behielt sein Partner weiter den Club 88 im Auge. Ab und zu hob er sein Fernglas, um ankommende oder gehende Gäste genauer ins Auge zu fassen.
»Er ist uns unten bei den Lagerhäusern am Ende der Garvey Avenue aufgefallen. Es war schon spät, und er war in einem Lieferwagen unterwegs. Machte den Eindruck, als hätte er sich verfahren. Er ließ uns hinten reinschauen, und der Lieferwagen war auch tatsächlich leer, aber ich schätze mal, er wollte irgendwas abholen. In diesen Lagerhäusern werden jede Menge gefälschter Markenprodukte umgeschlagen. Und man verfährt sich dort sehr leicht, weil es so viele gibt und alle gleich aussehen. Jedenfalls, der Lieferwagen hat nicht ihm gehört. Er war auf einen Vincent Tsing zugelassen. Der lebt zwar in Pasadena, ist aber für uns kein Unbekannter. Yung-Kim-Mitglied. Ihm gehört eine große Gebrauchtwagenfirma hier in MP , und Chang arbeitet für ihn.«
Bosch wusste, wie das Ganze abgelaufen war. Tao hatte den Lieferwagen angehalten, war aber in Ermangelung eines berechtigten Grunds, das Fahrzeug zu durchsuchen oder Chang festzunehmen, auf Changs Kooperationsbereitschaft angewiesen
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