Harry Bosch 15 - Neun Drachen
die Videoapplikation auf und gab den Abspielbefehl, dann reichte er das Handy Gandle, der hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.
»Was soll das heißen: ›Sie haben …‹«
Er verstummte, als er das Video sah.
»Um Himmels willen … nein … Harry, sind Sie sicher, dass das echt ist?«
»Was glauben Sie eigentlich? Natürlich ist es echt.
Sie haben sie, und dieses Schwein weiß, wer und wo!
«
Er deutete in Richtung Vernehmungszimmer. Wie ein gefangener Tiger schritt er jetzt schneller auf und ab.
»Wie macht man das? Ich möchte es mir noch mal ansehen.«
Bosch riss Gandle das Handy aus der Hand und startete das Video erneut.
»Ich muss unbedingt noch mal zu ihm rein«, verlangte Bosch, während sich Gandle das Video ansah. »Er muss mir sagen …«
»Sie kommen mir nicht mehr in die Nähe dieses Kerls«, widersprach Gandle, ohne aufzublicken. »Harry, wo ist sie, in Hongkong?«
»Ja, in Hongkong, und dahin wollte auch er. Von dort kommt er, und dort hat die Triade ihren Sitz, zu der er gehört. Außerdem haben sie mich angerufen. Habe ich Ihnen doch erzählt. Sie sagten, es hätte Folgen, wenn …«
»Sie sagt doch auf dem ganzen Video gar nichts. Niemand sagt etwas. Woher wollen Sie überhaupt wissen, dass das Changs Leute sind?«
»Es ist die Triade! Sie brauchen nichts zu sagen! Das Video spricht für sich. Sie haben sie. Das ist die Botschaft!«
»Okay, okay, dann lassen Sie uns mal in Ruhe nachdenken. Sie haben sie, und wie lautet die Botschaft? Was wollen sie von Ihnen?«
»Dass ich Chang laufenlasse.«
»Wie? Dass Sie ihn einfach nach Hause gehen lassen?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls, dass ich die Ermittlungen irgendwie einstelle. Die Beweise verliere oder, noch besser, aufhöre, nach Beweisen zu suchen. Im Moment haben wir nichts, um ihn länger als bis Montag festhalten zu können. Das ist, was sie wollen: dass er freikommt. Hören Sie, ich kann hier nicht einfach so rumstehen. Ich muss …«
»Wir müssen das der Spurensicherung zukommen lassen. Das ist das Erste. Haben Sie Ihre Ex schon angerufen, ob sie was weiß?«
Bosch merkte, dass er in seiner Panik nicht daran gedacht hatte, seine Ex-Frau, Eleanor Wish, zu verständigen. Er hatte nur seine Tochter anzurufen versucht, und als sie nicht ans Telefon gegangen war, hatte er sich sofort Chang vorgeknöpft.
»Sie haben recht. Geben Sie her.«
»Harry, das Handy muss zur Spurensi…«
Bosch beugte sich über den Schreibtisch und riss Gandle das Handy aus der Hand. Er schaltete es auf Telefonmodus und drückte die Schnellwahltaste für Eleanor Wish. Während er wartete, dass die Verbindung zustande kam, sah er auf die Uhr. In Hongkong war es Samstag kurz vor fünf Uhr morgens. Er verstand nicht, warum er noch nichts von Eleanor gehört hatte, wenn ihre Tochter verschwunden war.
»Harry?«
Die Stimme klang wach. Er hatte sie nicht aus dem Schlaf gerissen.
»Eleanor, was ist da los? Wo ist Madeline?«
Er ging aus Gandles Büro und zu seinem Abteil.
»Das weiß ich nicht. Sie hat nicht angerufen und reagiert nicht auf meine Anrufe. Woher weißt du, was los ist?«
»Ich weiß doch auch nichts, aber ich habe eine … eine Nachricht von ihr erhalten. Erzähl mir, was du weißt.«
»Was stand denn in ihrer Nachricht?«
»Da stand nichts. Es war ein Video. Jetzt sag schon endlich: Was ist da los?«
»Sie kam gestern nach der Schule nicht von der Mall nach Hause. Weil Freitag war, habe ich ihr erlaubt, mit ihren Freundinnen hinzugehen. Normalerweise meldet sie sich dann immer um sechs und fragt, ob sie noch länger bleiben darf, aber diesmal habe ich nichts von ihr gehört. Und als sie dann auch nicht nach Hause kam, rief ich sie an, aber sie ging nicht dran. Ich habe ihr mehrere SMS geschickt und wurde richtig sauer. Du kennst sie ja, das ärgert sie dann, und sie kommt erst recht nicht nach Hause. Daraufhin habe ich ihre Freundinnen angerufen, aber sie behaupten alle, nicht zu wissen, wo sie ist.«
»Eleanor, bei euch ist es jetzt kurz nach fünf Uhr morgens. Hast du schon die Polizei angerufen?«
»Harry …«
»Was?«
»Sie hat das schon mal gemacht.«
»Wie bitte?«
Bosch ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl plumpsen und sackte, das Handy an sein Ohr gepresst, in sich zusammen.
»Sie blieb die ganze Nacht bei einer Freundin, um es ›mir zu zeigen‹«, fuhr Eleanor fort. »Ich habe damals die Polizei angerufen, und es war alles furchtbar peinlich, weil sie sie bei einer Freundin gefunden haben.
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