Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Entschuldige bitte, dass ich dir das nicht erzählt habe. Aber sie und ich, wir haben so unsere Kämpfe. Sie ist jetzt in dem Alter, du weißt schon. Sie führt sich auf, als wäre sie schon wesentlich älter, als sie wirklich ist. Und im Moment scheint sie mich nicht besonders zu mögen. Sie redet ständig davon, dass sie bei dir in L.A. leben möchte. Sie …«
Bosch schnitt ihr das Wort ab.
»Hör zu, Eleanor, kann ich alles verstehen, aber diesmal ist die Sache anders. Diesmal ist tatsächlich etwas passiert.«
»Wie meinst du das?«
Panik flutete ihre Stimme. Bosch erkannte seine eigene Angst darin wieder. Alles in ihm sträubte sich dagegen, ihr von dem Video zu erzählen, aber er glaubte, es jetzt tun zu müssen. Sie musste es erfahren. Er schilderte ihr die dreißig Sekunden des Videos, ohne etwas auszulassen. Eleanor gab einen schrillen klagenden Laut von sich, wie ihn nur eine Mutter für ihre verlorene Tochter hervorbringen konnte.
»O Gott, nein, nein, nein.«
»Ich weiß, aber wir bekommen sie zurück, Eleanor. Ich …«
»Warum haben sie es dir und nicht mir geschickt?«
Er merkte, dass sie zu weinen begann. Sie verlor die Beherrschung. Er beantwortete ihre Frage nicht, weil er wusste, es würde alles nur noch schlimmer machen.
»Hör zu, Eleanor, wir müssen uns jetzt zusammenreißen. Du musst das für sie tun. Du bist vor Ort, ich nicht.«
»Was wollen sie, Geld?«
»Nein …«
»Was dann?«
Bosch versuchte, ruhig zu sprechen. Er hoffte, es hätte selbst übers Telefon eine ansteckende Wirkung, wenn die Bedeutung seiner Worte zu ihr durchdrang.
»Ich glaube, es ist eine Botschaft an mich, Eleanor. Sie wollen kein Geld. Sie geben mir nur zu verstehen, dass sie in ihrer Gewalt ist.«
»Du? Warum? Was haben sie … Harry, was hast du getan?«
Die letzte Frage stellte sie in anklagendem Ton. Bosch fürchtete, es wäre eine Frage, die ihn sein ganzes Leben lang verfolgen würde.
»Ich ermittle in einem Fall, in den eine chinesische Triade verwickelt ist. Ich glaube …«
»Sie haben sie entführt, um dich gefügig zu machen? Woher wussten sie überhaupt etwas von ihr?«
»Das weiß ich noch nicht, Eleanor. Aber dem werde ich nachgehen. Wir haben einen Verdächtigen in Gewahr…«
Wieder unterbrach sie ihn, diesmal mit einem weiteren Winseln. Es war ein Laut, in dem der schlimmste Alptraum aller Mütter und Väter Ausdruck fand. Im selben Moment wurde Bosch klar, was er machen würde. Er senkte die Stimme noch mehr, als er fortfuhr.
»Eleanor, hör zu. Reiß dich bitte zusammen. Du musst dich jetzt gleich ans Telefon setzen. Ich komme nach Hongkong. Bis Sonntag bin ich da, noch vor Tagesanbruch. Bis dahin musst du dich mit ihren Freundinnen in Verbindung setzen. Du musst herausfinden, mit wem sie in der Mall war und wohin sie gegangen ist. Alles, was du herausfinden kannst. Hast du gehört, Eleanor?«
»Ich lege jetzt auf und rufe die Polizei an.«
»Nein!«
Bosch blickte sich um und sah, dass er mit seinem Ausbruch die Aufmerksamkeit des gesamten Bereitschaftsraums auf sich gelenkt hatte. Nach dem Zwischenfall im Vernehmungszimmer befand sich die ganze Truppe ohnehin noch in Alarmbereitschaft. Damit niemand ihn sehen konnte, beugte er sich noch tiefer über seinen Schreibtisch.
»Was? Harry, wir müssen …«
»Hör mir erst zu, und dann tu meinetwegen, was du für richtig hältst. Ich finde, du solltest die Polizei nicht anrufen. Noch nicht jedenfalls. Wir dürfen nicht riskieren, dass die Leute, die sie in ihrer Gewalt haben, erfahren, dass wir die Polizei eingeschaltet haben. Sonst bekommen wir sie vielleicht nicht mehr zurück.«
Sie antwortete nicht. Bosch konnte sie weinen hören.
»Eleanor? Hör zu! Willst du sie zurückhaben oder nicht? Jetzt reiß dich gefälligst zusammen. Du warst FBI -Agentin! Du schaffst das. Du musst die Sache wie eine Agentin anpacken, bis ich da bin. Ich werde das Video analysieren lassen. Sie hat in dem Video gegen die Kamera getreten, so dass sie sich bewegt hat. Deshalb war kurz ein Fenster zu sehen. Vielleicht lässt sich damit etwas anfangen. Ich buche für heute Abend einen Flug und komme vom Flughafen sofort zu dir. Hast du das alles?«
Es dauerte eine Weile, bis Eleanor reagierte. Als sie antwortete, war ihre Stimme ruhig. Die Botschaft war bei ihr angekommen.
»Ich habe alles, Harry. Trotzdem finde ich, dass wir die Polizei verständigen sollten.«
»Wenn du das möchtest, meinetwegen, schön. Dann tu es. Kennst du bei der
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